Die Lanze des Herrn
wartete.
»Warten« war etwas zu viel gesagt. Judith entdeckte ihn nämlich nicht sogleich. Dino Lorenzo stand in seinem weitärmeligen Habit gebückt hinter seinem Sessel und fegte die Scherben einer Tonstatuette zusammen, die er durch eine ungeschickte Bewegung zu Boden geworfen hatte. Dabei schimpfte er vor sich hin und gab keuchend saftige Verwünschungen von sich.
Judith klopfte diskret an die halboffene Tür. Dino richtete sich jäh auf, wie ein ertapptes Kind. Sein Doppelkinn bebte einen Moment, dann hellte sich seine Miene auf. Mit seinem rundlichen Gesicht, seiner hohen Stirn und den tiefliegenden Augen konnte der Sechzigjährige abwechselnd gerissen oder schelmisch aussehen. Den kleinen Besen in der Hand, sagte er eine Weile nichts. Judith lächelte erneut.
»Hatten Sie ein kleines Missgeschick?«
»Ja. Eine afrikanische Plastik. Geschenk von Monsignore Bonafé. Na ja, solche Dinge sind zerbrechlich.«
Er räusperte sich, dann fiel ihm der Grund ihres Treffens ein, und seine Miene verdüsterte sich. Er warf die Reste der Figur in den Papierkorb und legte den Handfeger unter seinen Schreibtisch. Dann setzte er sich auf seinen samtbezogenen Sessel mit den Messingnägeln und forderte Judith auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Sein Kopf befand sich genau in der Mitte des hinter ihm hängenden Verkündigungsbildes und schien durch einen kuriosen Effekt von dem leuchtenden Schweif eines Kometen wie von Haaren eingerahmt zu sein, ein Engel Gabriel, der vom Himmel herabkam. Judith vermutete, dass ihm das noch nie aufgefallen war. Sie müsste es ihm irgendwann sagen. Aber im Moment machte er ein so finsteres Gesicht, dass sie lieber schwieg.
Langsam legte er einen Aktenordner auf seinen Mahagonischreibtisch.
»Ich habe schlimme Nachrichten. Öffnen Sie den Ordner noch nicht. Sie werden einen Schock bekommen.«
Judith blinzelte. Dino Lorenzo holte tief Luft, rieb sich die Augen, dann stützte er die Ellbogen auf und legte die Hände wie zum Gebet zusammen.
»Sie kannten doch Enrico Josi, oder?«
»Den Archäologen? Natürlich. Warum?«
Dino befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge. Er schien um Worte zu ringen.
»Er wurde ermordet. Vorgestern Abend. Bei den Ausgrabungen in Megiddo.«
Judith erstarrte.
Nein, das war unmöglich.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Und nicht nur er. Das ganze Team wurde umgebracht. Innerhalb weniger Minuten.«
Er senkte den Blick und sah auf den Aktenordner.
Judith folgte mit trockener Kehle seinem Blick. Auf dem Deckel des gelben Ordners, den Lorenzo ihr reichte, stand »Vertraulich.« Das Hologramm in der Mitte stellte Jesus am Kreuz von Fra Angelico dar. Judith betrachtete den Ordner einen Augenblick, als berge er ein schwarzes Insekt, eine Spinne, die ihr gleich ins Gesicht springen würde.
Dann nahm sie die Akte, öffnete sie und sah die Fotos. Ihr Gesicht verzog sich, und sie unterdrückte ein Stöhnen. Pater Ungaro mit verrenkten Gliedmaßen in einer Grube. Drei israelische Soldaten. Enrico Josi, blutüberströmt… Sie warf einen kurzen Blick in Richtung der Fenster, bevor sie sich wieder den Bildern zuwandte. Mit zusammengebissenen Zähnen sah sie sich eines nach dem anderen an, wobei sie immer schneller blätterte.
Dann blickte sie auf und räusperte sich. Sie war kreidebleich.
»Erzählen Sie mir mehr.«
»Was wir für eine rein archäologische Unternehmung hielten, hat eine… ganz andere Wendung genommen. Die Pergamente aus Akko, die unter dem Petersdom gefunden wurden, das Testament des Longinus, wie wir es genannt haben… Ganz offensichtlich ist es echt. Und in dem Augenblick, da wir eines der größten Rätsel der Bibel zu lösen glaubten, sind wir in einen Sturm geraten, der mir alles andere als gefällt. Israel und die palästinensische Autonomiebehörde fordern eine Erklärung. Bisher war es uns ja gelungen, alles geheim zu halten, aber ich weiß nicht, ob wir das auch in Zukunft schaffen. Die Lanze in der Wiener Hofburg ist offenbar nicht die des Longinus. Sie hatten also recht.«
Er kratzte sich an der Stirn. Dann sah er der jungen Frau tief in die Augen.
»Sie wurde gefunden, Judith. In der Kapelle. Genau an der Stelle, die in den Pergamenten angegeben ist.«
Judith fragte atemlos:
»Wie? Sie wollen sagen, dass man tatsächlich… tatsächlich die Lanze gefunden hat? Die echte Lanze? Aber… das ist ja großartig!«
Unter anderen Umständen hätte Judith ihrer Begeisterung freien Lauf gelassen. Aber die ermordeten Archäologen
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