Die Lanze des Herrn
versetzten ihrer Freude einen kräftigen Dämpfer.
Dino Lorenzo hob eine Hand.
»Man hat eine Lanze gefunden, Judith. Sie wissen, was das bedeutet. Wir hatten uns auf zwei oder drei Jahre Gutachten und Gegengutachten eingestellt, bevor wir den Fund veröffentlichen können. Alles basierte schließlich auf Vermutungen. Aber offenbar waren wir nicht die Einzigen, die solche Vermutungen angestellt haben. Enrico Josi hatte mich über die Entdeckung benachrichtigt. Er hatte auch Fotos dazugelegt, die Sie ebenfalls in Ihren Unterlagen finden. Bevor… es passierte, natürlich.« Sie betrachtete die Fotos der freigelegten Kuppel, des Gangs, der zu der Kapelle führte, und der Kapelle selbst. Endlich sah sie auch das Bild der Lanze. Fasziniert starrte sie darauf. Auch die Aufnahmen der Mosaiken betrachtete sie aufmerksam: Die Soldaten auf dem Pfad. Den Abhang des Hügels unter dem beschädigten Teil. Den sich aus dem Meer erhebenden Drachen. Das Himmelsgewölbe und die unglaubliche Pietà, Dämon oder Sukkubus, die über dem Wasser ein Kind wiegte.
»Ihnen ist doch wohl klar, was…«
Sie blickte auf und verstummte, schwer atmend.
Beide schwiegen lange.
»Es ist etwas im Gange, Judith«, sagte der Direktor der Sammlungen schließlich. »Sie wissen, dass Jean-Baptiste Fombert weitgehend zu denselben Schlüssen wie Sie gekommen ist. Der Originalbericht des Longinus wurde auf Griechisch verfasst, aber der hebräische und der aramäische Text lassen vermuten, dass die Rollen in andere Hände gelangt sind. Jean-Baptiste Fombert meint, dass die Pergamente aus Akko vielleicht im Besitz der Essener von Qumran waren. Das heißt, sie könnten zum Corpus der Schriftrollen vom Toten Meer gehören. Bewiesen ist das jedoch nicht. Genau wie Sie hat er auf die Anspielungen auf den Krieg zwischen den Söhnen des Lichts und den Söhnen der Finsternis hingewiesen. Diese messianische, apokalyptische Vision ist zwar typisch für die Manichäer, aber nicht unvereinbar mit der Lehre von Qumran, ganz im Gegenteil. Und da ist noch etwas. Seit einiger Zeit erhalten wir hier jede Menge verrückter Nachrichten… Wir sind natürlich an dergleichen gewöhnt. Ich habe sogar Kassetten mit Aufnahmen bekommen, die im Niedrigfrequenzbereich von 14 – 20 Hertz oder im Hochfrequenzbereich zwischen 17 000 und 20 000 Hertz aufgenommen wurden. Auf manchen Kassetten befinden sich auch in umgekehrter Folge aufgenommene Nachrichten. Kürzlich war eine Botschaft in das Ave Maria von Gounod eingefügt. Die kleinen Schelme haben dafür so kurze phonetische Segmente verwandt, dass sie kaum zu entdecken waren. Wir haben uns anfangs sehr schwer getan, überhaupt zu begreifen, worum es ging. Sie werden von solchen Praktiken gehört haben. Erinnert Sie das an etwas?«
»Ja. Diese Art Spielchen sind unter den Satanisten verbreitet.«
»Genau«, sagte Dino und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
Er befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge und fuhr dann fort:
»Ich weiß, was Sie denken, Judith. Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass die Mission, mit der wir Sie betrauen wollen, gefährlich sein kann. Aber Sie können am ehesten herausfinden, was sich in Megiddo abgespielt hat. Sie kennen die Pergamente in- und auswendig. Es ist etwas im Schwange, Judith. Alle möglichen kleinen Gruppierungen verkünden den Weltuntergang! Eigentlich sind sie nicht wirklich ernst zu nehmen, aber ganz harmlos sind sie auch nicht. Die Millenisten zum Beispiel greifen ständig die angebliche Immoralität unserer Kardinäle an… dann die Praevarikateure… die Raelianer… und schließlich gibt es da noch die Zweiundsiebzig Propheten. Vor zwei Wochen… Wissen Sie, was ein trojanisches Pferd ist, Judith?«
»Sie meinen gewiss nicht das aus der Ilias… sondern… eine Art Computer-Virus, ja?« »Genau. Vor zwei Wochen ist es einem Hacker gelungen, in unser System einzudringen«, sagte Dino und berührte flüchtig den schwarzen Computer auf seinem Schreibtisch. »Er hat einen Alarm ausgelöst, ausgerechnet mit der Nachricht von der Wiederkehr des Antichristen. So etwas kann ich nicht mehr komisch finden. Alle diese Nachrichten werden hier analysiert und entschlüsselt…«
Dass jemand den Vatikan ausspionierte und in sein Informationssystem eindrang, war keine Bagatelle. Zwar schützte sich der Vatikan gegen solche Angriffe. Elektronikspezialisten waren zum Beispiel unaufhörlich auf der Suche nach Spionagegeräten. Während eines Konklaves sah die Apostolische Verfassung den Einsatz
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