Die Lanze des Herrn
Anlässen zur Schau trug.
Nur einige wenige im Vatikan wussten, welche Aufgaben er wahrnahm und was er unter seiner Soutane verbarg. Als früherer Leibwächter des Papstes und verantwortlich für Judith Guillemarches Sicherheit, seit er sie von Rom nach Notre-Dame-Sous-Terre begleitet hatte, war er ständig mit zwei Revolvern bewaffnet. Manchmal schritt er mit einer Sporttasche durch die Korridore. Dann kam er entweder von einem Schießtraining aus dem Apennin zurück oder war auf dem Weg dorthin. Er begrüßte Judith leise lächelnd mit einem Kopfnicken. Anselmo war schweigsam und hochgewachsen. Er hatte dunkles Haar mit leicht ergrauten Schläfen und ein Grübchen im Kinn. Im Aussehen konnte er sich mit Valentino messen, war aber eindeutig zurückhaltender. Sein Priesterkragen und seine gut sitzende Soutane stammten von Gamarelli, dem Dior des Klerus, der die Päpste seit Pius VI. ausstattete. Mit seinem athletischen Körperbau und durchdringenden Blick war Anselmo im Vatikan eine Legende.
Lange war er für die Schweizergarde und die Sicherheit seiner Kollegen und des Papstes bei dessen Auslandsreisen zuständig gewesen. Er stand in Verbindung zu den staatlichen Polizeibehörden und Geheimdiensten weltweit und organisierte bei Reisen des Papstes die Aufstellung von Scharfschützen in Wohnungen, die den Weg des Heiligen Vaters säumten. Bei solchen Gelegenheiten hatte er immer einen Ballistikfachmann bei sich. Man karikierte ihn häufig, wie er fieberhaft auf die Uhr schaute, denn er kontrollierte jede Minute, damit jeder Abschnitt einer Reise oder Feier zum richtigen Zeitpunkt stattfand. Unterstützt wurde er von dem Jesuitenpater Travelli, der ebenfalls für das Timing der Papstreisen zuständig war, und als einer der wenigen Kleriker im Vatikan genauso gekleidet war wie Anselmo. Auf päpstlichen Auslandsreisen standen beide in ständiger Verbindung mit den jeweiligen örtlichen Sicherheitsorganen und waren jederzeit bereit, die geplante Route zu ändern, wenn sich die geringste Gefahr ankündigte. Der mit Menschenansammlungen und den ruckweisen Vorwärtsbewegungen des Papamobils mit der Nummer SCV1, Stato della città del Vaticano 1, vertraute Anselmo schien immer überall und nirgends zu sein. Im Vatikan nannte man ihn das Chamäleon.
Seine Anstellung verdankte er seinem älteren Bruder, der bereits in kirchlichen Diensten gestanden hatte, als Anselmo noch vom Priesteramt träumte und seine Tage damit verbrachte, mit seinem Vater in der Lombardei, wo er geboren war, Wildenten zu jagen. Anselmo war tieffromm, galt aber auch als ein Mann von scharfer Urteilskraft. Sein Schicksal nahm einen anderen Lauf, als er bei einem Familienfest einen Rattenfänger der Abetaja kennenlernte, des vatikanischen Geheimdienstes, der seit vielen Jahren weltweit agierte. Anselmos Entwicklung und die bereits sehr erfolgreiche Laufbahn seines Bruders machten ihn zum geeigneten Kandidaten. Eines Tages hatte er Judith von jenem Morgen im Mai erzählt, als er in einem Büro bei den Raffael-Loggien mit seinem späteren »Führungsoffizier« Verbindung aufgenommen hatte. Auf den glorreichen Spuren Leonardo Spinellis absolvierte er seine diplomatische Ausbildung an der Minerva. Die beiden Männer hatten sich damals kennengelernt und waren gute Freunde geworden. Anselmo wurde zuerst Leibwächter Clemens’ XV. und schließlich der von Clemens XVI. Heute gehörte er zu der erlesenen Schar von Monsignori, die besondere Aufgaben für Seine Heiligkeit wahrnahmen.
Die Institution, für die er arbeitete, hatte sich bewährt. Im Lauf der Jahre hatte die Abetaja eine Spitzenposition unter den Geheimdiensten eingenommen und hatte beispielsweise im Kalten Krieg Hand in Hand mit der Solidarnosc gegen den KGB gearbeitet. Untersuchungen im Vatikanstaat oblagen der Vigilanza, der Polizei des Vatikanstaats, die Abetaja kümmerte sich um externe Ermittlungen und unterstand dem Staatssekretariat. Eine langjährige Rivalität, wie sie es bei allen Organisationen dieser Art gibt, herrschte zwischen den beiden Diensten. Nur für den Petersplatz war die italienische Polizei zuständig, obwohl er auf dem Staatsgebiet des Vatikans lag.
Ohne direkt der Abetaja anzugehören, hatte Judith bereits auf etlichen Missionen, mit denen Dino Lorenzo sie beauftragt hatte, mit Agenten des vatikanischen Geheimdienstes zusammengearbeitet. Deren Aufgabe bestand vor allem darin, Informationen über alle Aktivitäten der Staaten hinsichtlich katholischer Angelegenheiten zu
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