Die Lanze des Herrn
Gesicht. Sie schob sie hinter ihr Ohr.
»Tja!… Und Ihnen?«
Wieder lächelte der Papst, diesmal amüsiert.
»Ich habe, wie soll ich sagen, viel zu tun.«
Dann setzte er seinen Weg fort, und das Gemurmel seiner Begleiter hob wieder an. Er sah sich noch einmal zu ihr um und sagte:
»Judith… seien Sie vorsichtig.«
Judith blieb einen Moment stehen und sah ihm nach, bevor sie sich wieder auf den Weg machte.
♦♦♦
Den Rest des Tages verbrachte sie mit den Dingen, die bis zu ihrer Abreise erledigt werden mussten, und vertiefte sich noch einmal in die Akte, die Dino Lorenzo ihr überlassen hatte. Bei der Ankunft in ihrer Wohnung in der Via Veneto fieberte sie fast vor Aufregung. Sie musste ununterbrochen an ihr Gespräch mit dem Direktor der Sammlungen denken.
Mechanisch nahm sie die Post aus ihrem Briefkasten, erklomm die dritte Etage und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie ihre Wohnung betrat. Sie musste sich unbedingt entspannen. Sie legte ihre Schlüssel aufs Sofa, goss sich einen Tee auf und nahm eine heiße Dusche, während er zog. Dann tauschte sie ihre Kleidung gegen ein weißes T-Shirt, Jeans und Turnschuhe. Sie versuchte sich auszuruhen, doch es gelang ihr nicht, und so arbeitete sie noch eine Weile. Eine Stunde später entdeckte sie den Umschlag.
Ihr Herz schlug schneller.
Da ist er, dachte sie.
Erst nach einer weiteren halben Stunde konnte sie sich entschließen, den Brief zu öffnen. Ihre Kehle war trocken. Als sie schließlich das Kuvert aufriss, zitterten ihr die Hände. Fünf Minuten später hatte Judith eine Teetasse in der Hand, doch ihr Blick ging ins Leere.
Dann ließ sie jäh die Tasse fallen. Sie zerbrach und der Tee spritzte auf das Spülbecken.
Judith nahm den Kopf in beide Hände und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ihre Schultern bebten.
Eine negative Antwort. Warum?
Sie goss sich einen eiskalten Wodka ein und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch vor den Fenstern ihres kleinen Wohnzimmers. Draußen ging die Sonne unter. Auf der anderen Straßenseite bewegten sich die Blätter der Bäume im Wind.
Beruhige dich, Judith, beruhige dich.
Innerlich unbeteiligt verfolgte sie das Kommen und Gehen der Autos und Passanten, betrachtete die reich verzierten Fassaden der römischen Villen auf der anderen Straßenseite und beschäftigte sich mit unwichtigen Details wie der Farbe der Fensterläden, der Form der Mauervorsprünge, dem Chaos der Dächer. Bekümmert rieb sie sich die Augen. Farbstreifen zerrissen langsam den Himmel, bis die Dämmerung nach und nach die Oberhand gewann und sich auf die Erinnerungen an die Imperatoren der römischen Antike legte, auf die Bögen des Kolosseums, den Neptun der Fontana di Trevi und in der Ferne auf das marmorne Mausoleum des Augustus. Judith lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Ihr Laptop, auf dem sie ihre Berichte schrieb, war ausgeschaltet. Wieder kamen ihr die Tränen. Als hätte sie es schon immer gewusst. Als hätte diese unerklärliche Ahnung seit ihrer Studentenzeit auf ihr gelastet. Natürlich völlig idiotisch, dieser Gedanke. Aber sie war so bekümmert, dass sie auf einmal ihr ganzes Leben aus diesem neuen Blickwinkel sah. Als hätte das Gefühl eines unausweichlichen Verhängnisses, eines bevorstehenden Dramas sie immer begleitet, irgendwo in ihr gehaust.
Ihre morgige Mission beunruhigte sie bereits ausreichend, und jetzt kam auch noch diese Sache hinzu. Ausgerechnet jetzt, damit sie auch tatsächlich den Verstand verlor.
»Mist! Verfluchter Mist!«
Judith, nimm dich zusammen, ich bitte dich. Nimm dich zusammen. Es gibt immer eine Lösung, andere Lösungen…, sagte sie sich dann.
Hatte sie früher nur aus Zufall mit dem Gedanken gespielt, in einen Orden einzutreten? War es Zufall, dass sie erst als Mädchen, dann als Jugendliche den Eindruck hatte, nicht aus diesem Jahrhundert zu sein, nicht aus dieser Zeit zu stammen? Dass sie immer im Abseits zu stehen schien und ungläubig miterlebte, wie sich das Chaos ausbreitete und sie zu ersticken drohte? War es Zufall, dass sie sich auf der Flucht vor diesen Ängsten in alle nur erdenklichen Formen der Sublimation geflüchtet hatte? In die Kunst, in die Religion, um einen anderen Weg zu finden, eine Form der Transzendenz. Und Hoffnung. Hoffnung darauf, dass es hinter dem Schleier eine andere Wirklichkeit gab. Schöner und friedlicher. Dem Chaos entrissen. Die Katholikin vom Dienst. So hatte man sie zu Hause genannt. Ihr Bedürfnis nach Sinn – ihre eigenen
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