Die Lanze des Herrn
Frühchristentum«. Auf die möglichen Gründe für das Gemetzel wurde nicht näher eingegangen. Dafür hatten der Geheimdienst des Vatikans, die israelische Regierung und die Palästinenser gesorgt. Den zahllosen Spekulationen hatten sie allerdings keinen Riegel vorschieben können. Der Grabungsort war auf Veranlassung der israelischen Regierung abgesperrt worden. Es war aber nur eine Frage der Zeit, bis die Journalisten Einzelheiten erfahren würden.
Judith warf einen Blick durchs Fenster und verfolgte eine Weile die weißen Wolken unter dem blauen Himmel. Die Sonne spiegelte sich als glänzender Stern auf dem Flügel der Maschine. Obwohl sich Judith um Konzentration bemühte, wanderten ihre Gedanken. Ihr schmerzender Kopf ließ sie nicht in Ruhe.
Seufzend legte sie die Zeitungen beiseite, kramte in ihrer Tasche und holte die Geheimakte heraus. Sie versuchte nachzuvollziehen, was geschehen war, seit sie ihren ersten Bericht verfasst hatte. Erstens: In der Bibel stand, dass am Abend der Kreuzigung ein Legionär, der spätere hl. Longinus, die Seite Jesu durchbohrt hatte, um sich zu vergewissern, dass der Gekreuzigte tot war. Zweitens: Ludwig Kaas hatte die Pergamente mit dem Testament des Longinus im Grab eines Templers gefunden, der nach der Eroberung der Festung Akkon 1291 nach Rom zurückgekehrt war. Die Pergamente waren von Longinus auf Griechisch verfasst oder diktiert worden und vermutlich in die Hände der Essener von Qumran gelangt, die sie durch ihre eigenen apokalyptischen Prophezeiungen ergänzt hatten. Wie aber waren die Rollen in die Totenstadt unter dem Petersdom gelangt? Ungelöstes Geheimnis. Drittens: Die Übersetzungen Judiths und Pater Fomberts hatten es ermöglicht, die Kapelle von Megiddo freizulegen, die genau an der Stelle lag, wo die Apokalypse angeblich stattfinden sollte. All das konnte nicht bloßer Zufall sein! Und schließlich hatte das Archäologenteam nach zwei oder drei Wochen die Lanze tatsächlich gefunden. Vieles sprach dafür, dass sie echt war, auch wenn die Gutachten noch ausstanden.
Es ist unglaublich, sagte sich Judith und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Wahnwitzig! Man hätte sich ja noch vorstellen können, dass die Pergamentrollen des Longinus gefälscht waren, aber die Analysen hatten ihre Echtheit bestätigt. Und die Fehlerquote bei dieser Art Datierung war sehr gering. Und davon einmal ganz abgesehen – wer außer dem Legionär selbst hätte damals ein Interesse daran haben können, eine solche Geschichte zu erzählen? Hatte er sich nach Qumran begeben, bevor er nach Italien ging oder nach Kappadozien zurückkehrte? Wir haben möglicherweise die faszinierendste Reliquie der Christenheit gefunden, dachte Judith.
Man hatte allerdings auch das Petrusgrab entdeckt, die Überreste des Evangelisten Markus, die 828 von Alexandria nach Venedig gebracht worden waren, und das Leichentuch Jesu – über dessen Echtheit allerdings noch immer gestritten wurde. Auch die Lanze würde auf ihre Echtheit geprüft werden müssen. Mit Sicherheit würde sie Kontroversen auslösen. Doch kaum hatte man sie entdeckt, da wurde sie schon gestohlen… Und laut Kardinal Lorenzo und den Israelis war der Raub das Werk von Profis. Die Analyse der am Tatort gefundenen Patronenhülsen und die vom Mossad in aller Eile durchgeführten ballistischen Untersuchungen hatten ergeben, dass sich die Täter modernster Waffen vom Typ M16 mit 13-Millimeter-Kaliber und Laserzielfernrohr bedient hatten. Das waren Sturmgewehre, wie sie im Bosnienkrieg von den Heckenschützen verwendet worden waren. Enrico Josi war durch einen Pistolenschuss getötet worden, ohne Zweifel war die Waffe mit einem Schalldämpfer versehen gewesen. Judith, Enrico Josi und der Vatikan waren nicht die Einzigen, die diese Grabungen ernst nahmen. Wenn dieser Damien Seltzner, offenbar der einzige Überlebende, in den Raub verwickelt war, hatte er genug Zeit gehabt, alle Daten an irgendwelche Leute weiterzuleiten. Die Kapelle war schnell entdeckt und innerhalb von zwei Wochen freigelegt worden. Die Erwähnung der Lanze in dem Pergament ließ vermuten, dass man sie dort finden würde. Die Terroristen, so musste man sie wohl nennen, da man nicht wusste, wer hinter der Tat steckte, mussten schnell gehandelt haben, kaum dass die Lanze entdeckt worden war und noch bevor sie nach Jerusalem gebracht werden konnte.
Es musste eine Organisation sein – aber welche?
Auf Judiths Stirn bildeten sich Falten. Sie sah sich Damien Seltzners Foto
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