Die Lanze des Herrn
Eltern hatten es nie begriffen. Ihr Glaube, der sie in den Augen mancher Leute so verdächtig machte. Und heute schließlich die so sehr gefürchtete Verletzung. Sie hatte nie gewagt, mit ihren Eltern darüber zu sprechen, die immer noch von einem anderen Leben für sie träumten. Judith wurde schwindelig, sie konnte nicht mehr scharf sehen. Sie legte eine Hand auf die Stirn. Sie murmelte vor sich hin. Sie hatte ihnen nichts davon gesagt und würde ihnen auch nichts davon sagen. Vor allem jetzt, da sich ihre Befürchtungen bestätigt hatten. Sie hatte nicht die Kraft dazu. Sollten sie bei ihren Träumen bleiben. Bei ihren romantischen Vorstellungen.
Du wirst nie ein Kind haben können, dachte sie.
Sie kämpfte gegen ihre Tränen an.
Warum wurde sie einer solchen Prüfung unterzogen? Musste sie ihren Glauben in Frage stellen? Sie musste einen klaren Kopf bewahren. Es war nur ein körperliches Problem, nicht wahr? Sie nickte mit dem Kopf. Sie sah sich im Spiegel der Fensterscheibe. Sie sah ein Possenspiel, eine Grimasse, ein Schattenbild. Sie hatte so sehr von ihrem Himmelreich, ihrem lichterfüllten Jerusalem geträumt! So tief an die Poesie der Texte, der Gemälde, ihrer Forschungen geglaubt, dass sie ihr ganzes Herzblut hineingesteckt hatte. Und jetzt lag wieder dieser Schleier über ihr, sie war traurig und verschleiert wie dieses undeutliche, sternförmige, beinahe verzerrte Spiegelbild vor ihr. Sie war allein. Sie hatte sich immer so allein gefühlt. Und heute Abend vielleicht mehr denn je. Selbst im Herzen der Kirche, selbst mit dem Gedanken an eine Gemeinschaft, zu der mehr als eine Milliarde Gläubige gehörten… Was hatte sie davon? Worauf es ankam, das war Mutter zu sein.
Aber was will ich eigentlich? Ich bin ja noch nicht einmal in der Lage, einen Mann zu finden…, fügte sie in Gedanken sarkastisch hinzu. Begonnen hatte es mit Schmerzen im Unterleib. Dann taten ihr die Beine und das Kreuz weh. Bei der Ultraschalluntersuchung war eine Endometriose entdeckt worden. Ein beunruhigendes, ihr unklares Wort. Die Folgen waren hingegen vollkommen klar. Die Erkrankung konnte zur Unfruchtbarkeit führen. Eine Untersuchung unter örtlicher Betäubung hatte die Diagnose bestätigt. Der Arzt hatte Judith gefragt, ob sie sich Kinder wünsche, was sie natürlich bejaht hatte. Zwei Eingriffe, die ihre Empfängnisfähigkeit verbessern sollten, hatten nicht ausgereicht. Dann hatte man außerdem eine Behandlung mit Hormonen und empfängnisverhütenden Mitteln durchgeführt. Dadurch sollte der Eisprung vermieden, die Schmerzen gelindert und die Wucherungen zum Verschwinden gebracht werden. Aber damit wurden die Ursachen des Problems nicht beseitigt.
So blieb nur noch die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung, wodurch sich die Chancen um dreißig Prozent erhöhten.
Es war also noch nicht alles verloren, wenn auch noch nicht bewiesen war, dass sich durch solche Eingriffe die Fruchtbarkeit wirklich erhöhte. Zurzeit verschrieb man ihr ein schmerzlinderndes, entzündungshemmendes Mittel. Die Ergebnisse der letzten Untersuchung, die sie soeben gelesen hatte, waren nicht gut. Ihre Frauenärztin schlug ihr sogar vor, die Gebärmutter zu entfernen, damit sie die Beschwerden loswurde und ein »normales« Leben führen könnte. Ein Leben, in dem sie endgültig auf Kinder würde verzichten müssen. Bis dahin aber konnte sie auch weiterhin Aspirin nehmen. Ihr Blick fiel auf eine goldgerahmte Miniatur auf ihrem Schreibtisch. Dino Lorenzo hatte sie ihr geschenkt, als sie im Vatikan zu arbeiten begonnen hatte. Sie nahm einen Schluck Wodka. Das Bild war von einem Schüler Raffaels. Auf dem Kunstmarkt war es mit Sicherheit mehrere Zehntausend Euro wert, schoss es ihr durch den Kopf. Mehrere Zehntausend Euro. Das waren die Werte, die heutzutage zählten. Sie lächelte bitter.
Dargestellt war Maria. Um das von einem Schleier umrahmte Gesicht schwebte ein Heiligenschein, aus den Augen sprach eine unendliche Güte.
Sie beugte sich über ihr Kind.
Maria, die Jungfrau.
Judith hob die Faust und hätte am liebsten das Glas zerschlagen, das die Miniatur schützte.
Mit einer großen Kraftanstrengung rief sie sich ihren Respekt vor Kunstwerken in den Sinn, um das kleine Bild nicht vom Schreibtisch zu fegen.
Religiöser Kitsch! Maria, Unbefleckte Empfängnis. Ewige Jungfrau.
Und sie selbst, das nette Mädchen, war von Gott verlassen? Was war das nur für eine Welt!
Wie konnte Gott das zulassen?
Gegrüßet seist du, Maria, voll der
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