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Die Lanze des Herrn

Die Lanze des Herrn

Titel: Die Lanze des Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaud Delalande
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an. Er war etwa fünfunddreißig und nicht unattraktiv. Ihm fiel eine kastanienbraune Strähne in die Stirn, er trug eine kleine runde Brille und hatte einen Drei-Tage-Bart. Mit seinem Hut und der Pose, die er für den Fotografen eingenommen hatte, wirkte er allerdings ein wenig wie ein Indiana Jones im B-Movie. Judith seufzte wieder. Klar, wenn die Lanze wirklich die echte war, dann hatte sie einen unschätzbaren Wert. Aber zu Geld machen konnte man sie nicht. Warum hatte man dann diese Tragödie inszeniert? Um die Lanze anderswo aufzuheben? In einer anderen Höhle? Im Keller eines privaten Sammlers? Einen internationalen Markt für gestohlene Reliquien gab es natürlich ebenso wie für gestohlene Kunstwerke. Aber diese Reliquie würde die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ein Verkauf käme sofort ans Licht. Das Risiko war einfach zu groß. Wozu also das Ganze?
    Judith schloss einen Moment die Akte. Sie nahm einen Stift und schrieb auf ein Blatt mit Rechenkaros:
    Megiddo → Satanisten? Apokalyptische Sekte?
    Dann dachte sie wieder an die E-Mails, von denen ihr Kardinal Lorenzo erzählt hatte. An die rückwärts aufgenommenen prophetischen Botschaften auf Audiokassetten, an die Aufnahmen mit kaum hörbaren Frequenzen, an das Ave Maria mit der verborgenen Botschaft, an das trojanische Pferd, das ein Hacker in das System des Vatikans eingeschleust hatte. Zwar war der Vatikan an Angriffe aller Art und abenteuerliche Botschaften von Schwärmern und Visionären gewöhnt, dass sie jedoch in letzter Zeit so zugenommen hatten, wurde von der Kurie allgemein als beunruhigend empfunden. Es war wirklich nicht mehr komisch. Satanische Visionäre. In Kardinal Lorenzos Büro war Judith spontan darauf gekommen. Sie hatte das Phänomen bei ihrer Arbeit in den Archiven verfolgt. Sie hatte es nicht gerade in guter Erinnerung. Die psychedelische Kirche der Venus, die Gesellschaft des Schwarzen Kults, die Kirche der Ewigen Quelle, der gnostische Kult der orphischen Satansjünger, der Grüne Orden, die Söhne des Feuers, The Church of Satan… Die Sekten waren um die Jahrtausendwende wie die Pilze aus dem Boden geschossen, man konnte sie nicht mehr zählen. Über die Namen konnte man vielleicht noch lächeln, aber die damit einhergehenden Ritualverbrechen waren besorgniserregend. In den USA hatte die Polizei von Pennsylvania 1946 nicht weniger als zehntausend satanistische Gruppen gezählt, 1985 sollen es schon hundertdreißigtausend gewesen sein. Seither war ihre Zahl noch weiter gestiegen, allerdings wurden keine Zahlen mehr veröffentlicht. Bei manchen Artikeln der  Daily News  oder des  Los Angeles Herald Examiner,  die Judith gelesen hatte, war es ihr kalt über den Rücken gelaufen. 1990 hatte die American Family Foundation ein Handbuch veröffentlicht, um Familien zu helfen, sich gegen Manipulationsversuche von Sekten zu wehren.
    Nachdenklich tippte Judith mit der Spitze ihres Kugelschreibers auf das Rechenpapier.
    Sie musste daran denken, dass sie oft die berühmte FBI-Datei VICAP konsultiert hatte. Die ersten Satanisten stammten aus dem amerikanischen Untergrund, es waren vereinsamte, drogenabhängige Jugendliche, die Fans von Rollenspielen, Hard-Rock-Musik und Heavy Metal waren. Schwarze Symbole lösten eine morbide Faszination bei ihnen aus. Sie veranstalteten »Rituale«, bei denen sie Katzen den Hals durchschnitten und sich mit ihrem Blut bespritzten. Die Zimmer solcher Adepten vermittelten einen recht genauen Eindruck von ihrem Milieu: Poster mit Sex und Sadismus, Kerzen, Knochen, Werke über Dämonologie, Hakenkreuze, Anhänger mit 666 oder FFF, dem sechsten Buchstaben des Alphabets, Natas- oder Nema-Graffiti, der Umkehrung von Satan oder Amen, Videokassetten mit Horrorfilmen oder Snuff Movies, CDs von Judas Priest oder AC/DC – AnteChrist/DemonChild… Die rhythmische, aggressive Musik enthielt manchmal versteckte Aufrufe zu Gewalt und Mord, Aufforderungen wie: Do it!, Aufrufe zum Selbstmord und Beschwörungen wie »Satan ist der Mächtige« oder »Mein liebster Satan… Er ist in mir«.
    In welcher Gesellschaft leben wir nur, dass wir so etwas hervorbringen?, fragte sich Judith.
    Aber hatte es das nicht zu allen Zeiten gegeben? Hexerei, Albträume, Phantasien von blutigen Ritualen? Auch ließ sich der Vatikan nicht so leicht erschüttern. Da bedurfte es schon mehr als eines Serienmörders oder eines durchgeknallten Jugendlichen – auch wenn in einer Welt wie der unseren, so dachte Judith, ein einziger Wahnsinniger

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