Die Lanze des Herrn
warf die Illustrierte aus dem Fenster.
Judith hatte eine Hand an die Stirn gelegt und sah dem Treiben auf der Straße zu. Da hörte sie Anselmo leise fluchen. »Was ist los?«, fragte sie.
Anselmo wies mit dem Kinn auf den Rückspiegel, an dem eine Medaille baumelte. Judith sah gerade noch, wie sich ihnen ein schwarzes Auto von links näherte.
Ägyptische Polizei?, dachte sie, als Anselmo ihr zwischen den Zähnen zuraunte:
»Wir werden verfolgt.«
♦♦♦
Kardinal Lorenzo saß am Schreibtisch, sein Computer war eingeschaltet. Er sah mit abwesendem Blick auf die afrikanische Tonskulptur, deren Scherben sein Sekretär Pietro aus dem Papierkorb gefischt und Stück für Stück zusammengeklebt hatte. Der Direktor der Vatikanischen Sammlungen strich sich sorgenvoll über das Doppelkinn. Die Finger seiner anderen Hand klopften nervös auf die Lehne seines Sessels. Der Verkündigungsengel mit dem leuchtenden Haarkranz auf dem Bild hinter ihm schien über seinen irdischen Schützling zu wachen. Der Kardinal seufzte. Wenn seine Befürchtungen sich bewahrheiteten, würde er einen Schutzengel brauchen. Er musste sich schnell um eine Audienz beim Heiligen Vater bemühen. Judith war unterwegs nach Alexandria, um Pater Fombert und den griechisch-orthodoxen Mönch aus dem Katharinenkloster zu treffen. Vielleicht würden sie bald mehr wissen. Doch Dino Lorenzo war bereits durch das, was er bisher erfahren hatte, äußerst beunruhigt. Auch Kardinal Almadoes war außer sich. Was in Kairo geschehen war, gab zu tiefster Besorgnis Anlass. Kardinal Acquaviva musste ebenfalls umgehend benachrichtigt werden.
Der Direktor stand auf, rieb sich die Augen und trat an das Fenster, von dem aus er die Gärten sehen konnte. Er blieb eine Weile stehen. Axus Mundi… Er verzog den Mund und schüttelte den Kopf. Dann ging er zurück an seinen Computer. Der Text einer Nachricht, die der Vatikan kürzlich erhalten hatte, blinkte immer wieder auf. Es fehlte nicht viel und der Kardinal hätte geglaubt, eine Stimme aus dem Grab mache sich über ihn lustig. Die Nachricht war natürlich anonym gesendet worden. Schwester Internet versuchte gerade herauszufinden, woher sie kam und wer der Absender war. Aber ein Zufall war ausgeschlossen. Der Unbekannte nahm wortwörtlich Bezug auf die Lanze und Axus Mundi. Was er von Judith gehört hatte, schien zu bestätigen, dass es einen Zusammenhang gab. Und so fürchtete Kardinal Lorenzo das Schlimmste.
Er sah wieder auf den Bildschirm.
Die Neue Maria.
Er biss sich auf die Lippen. Sie hatten es also geschafft, hatten es tatsächlich geschafft. Der Vatikan wusste seit Längerem, dass bestimmte Fanatiker behaupteten, im Besitz der nötigen technologischen Mittel dafür zu sein. Das Gerücht ging seit dem Zwischenfall mit dem Turiner Grabtuch um. Vielleicht war alles nur ein Witz. Ein Witz? Nein. Es waren Menschen getötet worden. Man hatte getötet, um zu diesem Ziel zu kommen. Vielleicht war man nach zweitausend Jahren christlicher Zivilisation tatsächlich an diesem Punkt angekommen, und was er befürchtete, war wahr geworden.
Alles, nur das nicht!
Auf dem Bildschirm stand plötzlich:
»Sie wollen wissen, was Axus Mundi ist, nicht wahr? Und was Axus Mundi vorhat? Axus Mundi will die Erdachse verschieben. Axus Mundi hat vor, liebe Kirche, deine verrückteste Idee wahr zu machen, weil Axus Mundi heute die Macht dazu hat. Die Macht, wie Gott zu sein, die Macht zu einem neuen Babel. Die Lanze ist nicht nur eine einfache Reliquie, meine liebe Kirche. Sie ist die Schicksalslanze. Die Lanze unseres Schicksals. Axus Mundi will…«
Der Kardinal holte tief Luft. Die Arme fielen ihm schlaff am Körper herunter. Dahin führte das also. Sie waren wahnsinnig. Das also war die Frucht unseres Wahns.
»IHN WIEDERERWECKEN, IHN WIEDERERWECKEN, IHN WIEDERERWECKEN, IHN WIEDERERWECKEN, IHN WIEDERERWECKEN, IHN WIEDERERWECKEN, IHN WIEDERERWECKEN, IHN WIEDERERWECKEN, IHN WIEDERERWECKEN, IHN WIEDERERWECKEN, IHN WIEDERERWECKEN, IHN WIEDERERWECKEN, IHN WIEDERERWECKEN.«
Kardinal Lorenzo schaltete den Computer aus.
Sie wollen Christus klonen, dachte er.
Er musste so schnell wie möglich mit dem Papst sprechen.
Zweiter Teil
ECCE HOMO
4. Kapitel
Zug Kairo – Alexandria, 2006 Labor Axus Mundi, 2006 Wien, 2006 Vatikan, 2006
Hütet euch vor den falschen Propheten, sie kommen zu euch wie harmlose Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.
(Mathäus
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