Die Lanze des Herrn
Hände.
Ich kann es einfach nicht glauben, dass es so weit kommt. Ich kann es einfach nicht glauben. Noch immer den Kopf schüttelnd, wandte sie sich wieder der vorbeifliegenden Landschaft zu.
Da stand Anselmo auf. Seine Bewegung holte sie jäh in die Wirklichkeit zurück.
»Ich gehe auf Erkundung. Bleiben Sie unterdessen hier.«
Judith blickte zu ihm hoch.
»Hier kann Ihnen nichts passieren. Aber passen Sie trotzdem auf, und bleiben Sie ruhig. Ich komme gleich wieder. Lassen Sie sich nicht von Ihrer Umgebung irritieren. Und bleiben Sie vor allem in diesem Wagen!«
Sie nickte schweigend.
Anselmo sah kurz zum rückwärtigen Fenster des Zugs hinaus. Dahinter waren nur Gleise zu erahnen, die sich in der Ferne verloren. Er machte sich zur Tür am anderen Wagenende auf, weil er sich im nächsten Waggon umsehen wollte.
Ohrenbetäubender Lärm schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete, und ein scharfer Luftzug traf ihn mitten ins Gesicht. Er holte tief Luft. Wenn etwas bei seinem Ausflug schiefging, war Judith allein auf sich gestellt. In einer Notlage würde sie sich nicht helfen können. Den wahren Grad seiner Beunruhigung hatte er ihr verheimlicht. Auf keinen Fall durfte er sie lange aus den Augen lassen. Aber er hatte keine andere Wahl, er musste jetzt handeln. Er befand sich zwar in einem Zug und nicht im Freien, aber mit diesem Handikap mussten seine Gegner auch fertigwerden. In dem Übergang zwischen den beiden Wagen überprüfte er rasch seine Dienstwaffen. Zwei Manurhin MR 73, die für den Personenschutz entwickelt worden waren. Auch die Schweizer Garde im Vatikan war zusätzlich zu ihren Hellebarden, Schwertern und Spießen mit Schusswaffen ausgestattet, jedenfalls die an den Grenzen postierten Gardisten.
Das himmlische Feuer. Er war immerhin ein Schutzengel.
Er entsicherte seine Revolver und verbarg sie wieder unter seiner Jacke.
Im nächsten Wagen, den er nun betrat, verschaffte er sich rasch Überblick. Hier saßen zwölf Reisende. Vier Touristen aus dem Westen, zwei junge Mädchen, eine füllige Muslimin, zwei junge Männer mit Krawatte und Aktenkoffer in angeregtem Gespräch. Sie machten auf ihn den Eindruck von Geschäftsleuten. Anselmo ging in dem hin und her schwankenden Zug ebenfalls leicht unsicher auf den Beinen nach vorn, um die drei restlichen Reisenden in Augenschein zu nehmen. Sie trugen weiße oder hellblaue Djellabas, schienen gemeinsam unterwegs zu sein und unterhielten sich auf Arabisch miteinander.
Auf jede Bewegung achtend, setzte Anselmo seinen Weg fort. Im nächsten Wagen waren vierzehn, nein, fünfzehn Personen. Drei Amerikaner, die stolz das Sternenbanner auf ihrer Reisetasche zur Schau stellten. Mehrere Gruppen von Arabern. Zwei etwa vierzigjährige Männer mit einer Sporttasche, die Butterbrote aßen. Sie unterhielten sich auf Deutsch mit österreichischem Akzent. Eine Familie, die aus Nordeuropa zu kommen schien. Anselmo öffnete die Abteiltür, durchquerte den Gang, der die Wagen miteinander verband. Der dritte Wagen war kein Großraumwagen, sondern bestand aus Abteilen.
Er war dabei, eine der Schiebetüren zu öffnen, als er plötzlich innehielt.
Zwei Männer, ungefähr vierzig, die Butterbrote aßen. Die Butterbrote waren normal. Aber – sie hatten nur eine Reisetasche bei sich. Vielleicht kannten sie sich gut und wollten ohne großes Gepäck reisen. Vielleicht hatten sie aber auch nicht damit gerechnet, mit dem Zug fahren zu müssen. Außerdem klebte auf der Tasche ein Etikett, das Anselmo zwar wahrgenommen, dessen Bedeutung er aber nicht gleich erfasst hatte. Als hätte sein Gehirn ohne sein Zutun weitergearbeitet, ging ihm plötzlich auf, was es bedeutete. Die Tasche war über den Flughafen Ben-Gurion transportiert worden.
Also durch den israelischen Zoll.
Anselmo stieß einen Fluch aus.
Er wollte gerade umkehren, als er einen leichten, unverkennbaren Druck in seiner Seite verspürte. Den Lauf einer Schusswaffe. Er schloss die Augen und verzog das Gesicht, als eine ironische Stimme ihm ins Ohr raunte:
»Buon giorno, maestro….«
Judith, die ungeduldig auf Anselmo wartete, sagte sich gerade, sie dürfe nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnen, da öffnete sich die Tür zu ihrem Wagen. Sie folgte dem Mann, der leicht lächelnd hereinkam, mit den Augen. Sein Haar war rot, kraus und kurz geschnitten, seine Haut gebräunt. Er kam geradewegs auf sie zu. Judith spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Kalter Schweiß brach ihr aus. Als sie handeln wollte,
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