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Die Lanze des Herrn

Die Lanze des Herrn

Titel: Die Lanze des Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaud Delalande
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Mikrosekunde gedauert haben soll. Aber am Ende konnte man manche Widersprüche doch nur durch Wunder erklären. Niemand wusste außerdem, ob ein und derselbe Gekreuzigte gleich in drei Tücher eingehüllt worden war. Und nichts bewies, dass es sich dabei tatsächlich um Jesus von Nazareth gehandelt hatte. Fragwürdige Zufälle waren keine Beweise. Im Übrigen waren inzwischen Leichentücher in Hülle und Fülle unters Volk gebracht worden, die von Experten als Fälschungen entlarvt worden waren. Kein Echtheitsnachweis der Reliquien war bisher international wissenschaftlich anerkannt. Ja, die angeblichen Nachweise bestärkten im Gegenteil die konspirativen Thesen, wonach die Kirche selbst Desinformation betreibe, damit angebliche Geheimnisse des Christentums nicht an die Öffentlichkeit gelangten.
    Aber mit der Lanze war das eine ganz andere Sache. Der Vatikan war im Besitz des Testaments des Longinus. Man hatte den Ort entdeckt, an dem die Lanze aufbewahrt worden war. An der Lanze konnten sich Spuren fossiler DNA erhalten haben, Damien Seltzner hatte an Ort und Stelle Proben entnommen. Kardinal Lorenzo konnte einer solchen Katastrophe nicht untätig zusehen. Seit der Geburt des Schafs Dolly war der Heilige Stuhl gezwungen gewesen, sich mit dem reproduktiven Klonen und seinen Folgen für den Menschen zu beschäftigen. Das Thema hatte im Vatikan große Besorgnis ausgelöst. 1996 suchte ein Mikrobiologe an der Universität von San Antonio in Texas namens Leoncio Garza-Valdès das Gespräch mit dem Papst. Er behauptete, es sei ihm gelungen, drei Gene aus Christi Blut zu klonen. Das nötige Material stamme vom Turiner Grabtuch. Er hatte seine Ergebnisse in einem Artikel mit dem Titel The DNA of God? veröffentlicht. Sofort hatten sich messianische Sekten in Amerika auf die Gelegenheit gestürzt und Spendenaktionen in Gang gesetzt, um ohne Rücksicht auf die Kosten Christi Blut gewinnen zu können. Schwester Internet hatte Judith von einer Sekte in Kalifornien erzählt, die sich »Second Coming Project« nannte und eine Wiederkehr Christi durch Klonen herbeiführen wollte, um die Welt zu retten. Die Raelianer ihrerseits behaupteten, es sei ihnen gelungen, dreißig Babys zu klonen. Das war mit Sicherheit nicht wahr, aber einen gewissen Einfluss auf die Menschen hatte diese Sekte durchaus.
    Was für ein Albtraum, dachte Judith. Einmal mehr fragte sie sich, in was für einer Welt sie lebte.
    In Anbetracht der Lage war es nur zu verständlich, dass der Papst das Turiner Grabtuch in einen gepanzerten Behälter hatte legen lassen, damit niemand in Versuchung geführt würde.
    Allerdings wussten Genetiker wie Garza-Valdès genau, dass Versuche, Jesus zu klonen, auf gewaltige Schwierigkeiten stoßen würden. Erstens würde man kein vollständiges Genom zur Verfügung haben, auch die möglicherweise vorhandene DNA der Lanze war mit Sicherheit beschädigt. Hinzu kam eine einfache Überlegung, der sich niemand, auch nicht der Große Rael, Guru der nach ihm benannten Sekte und Herr und Meister von Ufoland, entziehen konnte: Niemand konnte vorhersagen, wie sich ein geklontes Kind entwickeln würde. Eine Seele war nicht reproduzierbar. Faktoren des sozialen, beruflichen und religiösen Umfelds und verschiedene andere Umstände konnten einen faustischen Allmachtswahn vereiteln. Außerdem klonte man einen Menschen nicht wie einen Frosch oder ein Schaf, und trotz der gegenteiligen Behauptungen diverser Forscher waren große technische Schwierigkeiten zu überwinden.
    Das reichte doch eigentlich, dachte Judith, um sich zu sagen, dass das Vorhaben sinnlos war. Warum betreiben diese Leute es dennoch? Und vor allem, wie?
    Andererseits gab es genug Wissenschaftler, die davon überzeugt waren, dass das Klonen eines Menschen über kurz oder lang Wirklichkeit würde. In anderen Worten, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis es gelänge, das Leben der Menschheit von Grund auf zu verändern. Deshalb konnte der Heilige Stuhl die Bedrohung des Lebens einerseits und seiner Vorstellung von der Schöpfung andererseits nicht einfach ignorieren. Der Wettlauf der Genetiker war real, und das Geld, das auf dem Spiel stand, die Bedeutung der finanziellen Interessen, konnte man nicht hoch genug veranschlagen. Das Klonen von Schafen war bereits patentiert worden. Angesichts dieser Tatsachen musste die Lanze um jeden Preis und möglichst schnell wieder in die Hände der Kirche gelangen. Der Vatikan hatte keine Wahl. Erneut legte Judith ihren Kopf in beide

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