Die Lanze des Herrn
7,15-16)
Sie sind mit uns in den Zug gestiegen! Seit Anselmo gemerkt hatte, dass sie verfolgt wurden, waren er und Judith auf der Hut. In aller Eile hatten sie am Ramses-Bahnhof ihre Fahrkarten gekauft, um den Express von Kairo nach Alexandria zu erreichen. Anselmo rechnete mit mindestens zwei Verfolgern, vielleicht waren es sogar noch mehr. Er hatte sie in der Bahnhofshalle aus den Augen verloren, aber sie hatten sich bestimmt nicht in Luft aufgelöst. Die Zugfahrt würde fast drei Stunden dauern. Das wäre Zeit genug, um sie ausfindig zu machen und sich ihrer, falls nötig, zu entledigen. Anselmo war im Vorteil, weil ihre Verfolger vermutlich nicht wussten, dass er sie entdeckt hatte. Seit Harry Milchan im Khan erschossen worden war und Damien Seltzner in der Totenstadt ermordet, war das Chamäleon wieder in Hochform. Nachdenklich ließ er sich neben Judith im Großraumwagen nieder, der außer ihnen mit zehn weiteren Personen besetzt war. Anselmo spielte im Kopf alle Szenarien durch, mit denen er im Laufe seines Berufslebens konfrontiert gewesen war. Dann konzentrierte er sich auf die Mitreisenden. Wie ein Radargerät suchte er sie in allen Einzelheiten ab: Fünf Männer mit Tüchern auf dem Kopf, zwei Greise, zwei unglaublich beleibte Männer. Ein junger Mann, der ein wenig abseits saß. Drei schwarz verschleierte Frauen mit zwei Kindern. Anselmo kniff die Augen zusammen. Er war absichtlich in den letzten Wagen eingestiegen, um sowohl die letzte Waggontür am Ende des Zugs als auch die Schiebetür zum nächsten Wagen, die im Rhythmus des fahrenden Zugs hin und her schwang, im Auge behalten zu können.
In den nächsten drei Stunden würden ihre Verfolger sicher nichts unternehmen, dachte Anselmo und sah auf die Uhr. Bei Einbruch der Nacht wären sie in Alexandria. Nichts deutete bisher darauf hin, dass die geheimnisvollen Verfolger ihre Feinde waren, aber was konnten sie sonst sein? Neue Agenten des Mossad? Aber warum hatten sie sich dann nicht zu erkennen gegeben? Von der ägyptischen Regierung beauftragte Spione? Oder, und das wäre gefährlich, die Killer von Axus Mundi, die in Kairo gewütet hatten? Über Axus Mundi wussten sie noch so gut wie gar nichts. Kardinal Lorenzo war sicher gerade dabei, sich zu informieren. Judith wartete auf seinen Anruf. Sie sah sich nervös um, bevor sie wieder die Landschaft im Licht der untergehenden Sonne betrachtete, die in Reih und Glied stehenden Palmen, die heruntergekommenen Gebäude in den überbevölkerten Vororten von Kairo, die Dörfer am Nilufer. Sie versuchte Ordnung in ihre wirren Gedanken zu bringen.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Anselmo. »Ich kümmere mich um alles.«
Sie musste sich tatsächlich erst beruhigen, um sich konzentrieren zu können. Sie betrachtete einen Augenblick ihren Schutzengel. In seiner Gegenwart fühlte sie sich sicher.
Sie streckte die Beine aus, holte tief Luft und begann nachzudenken.
War das, was sie den Dateien entnommen hatte, wirklich zu glauben? Oder handelte es sich einmal mehr um esoterische Hirngespinste?
Dass man versuchen könnte, Jesus zu klonen, war keine neue Sorge des Vatikans. Es hatte viele Diskussionen über die widersprüchlichen Ergebnisse bei den Datierungsversuchen von Reliquien gegeben. Die Ergebnisse der Analysen waren zwar nicht uninteressant, aber die Zweifel an der Echtheit der Reliquien wurden durch sie nicht ausgeräumt. Das Grabtuch soll erst um 1300 n. Chr. gewebt worden sein und wäre somit eine mittelalterliche Fälschung. Die Tunika von Argenteuil, der angebliche Mantel Jesu, soll um das Jahr sechshundert entstanden sein, also etliche Jahrhunderte nach Christi Tod. Das Schweißtuch von Oviedo stammte angeblich aus dem achten Jahrhundert. Andererseits hatte man auch die Radiokarbonanalysen in Frage gestellt. Eine mangelhafte Durchführung der Tests könne zu Irrtümern von mehreren Jahrhunderten führen, hieß es von Seiten der Fachleute.
Judith, die sich im Vatikan mit der Problematik beschäftigt hatte, fand die Echtheit der Reliquien eher zweifelhaft, denn Fragen, wie der Abdruck des angeblichen Gesichts Christi eigentlich auf das Turiner Grabtuch gekommen war, waren noch immer unbeantwortet. Er war dreidimensional und durch eine Oxydation der Fasern entstanden, die bisher kein Wissenschaftler unter Laborbedingungen hatte wiederholen können. Man erklärte sich das Phänomen mit Hilfe eines »Blitzes«, dessen Stärke an die der Atombombe von Hiroshima heranreichte und der eine
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