Die Lanze des Herrn
eine Gegenkirche. Oder eine neue Kirche, das ist mir nicht ganz klar. Ich schreibe ein Memo für Sie, aber unsere Informationen sind im Moment noch sehr spärlich.«
Wieder wandte sich der Heilige Vater dem Fenster zu.
»Was machen wir mit Judith?«, fragte der Kardinal. »Sie soll sich heute mit Pater Fombert und dem Mönch vom Katharinenkloster in Alexandria treffen. Ich muss sie dringend anrufen.«
Der Papst zögerte einen Moment lang und sagte dann:
»Wir brauchen jemanden vor Ort. Wir können auf Judith nicht verzichten.« Sichtlich schweren Herzens fuhr er fort:
»Lassen Sie sie… noch eine Weile dort.«
Beide Männer schwiegen. Der Papst sah, wie sich die Fahne des Vatikans über der Kuppel des Petersdomes leicht im Wind bewegte. Zugleich sah er vor seinem geistigen Auge, wie eine riesige Welle aus der Ferne, vom anderen Ende der Erde und der Geschichte, auf sie zurollte, um die zwei Jahrtausende Arbeit der Kirche zu verschlingen. Er dachte an die Geburt Christi und den Stern von Bethlehem, an das Kreuz auf Golgatha, an das Grab der Auferstehung, an die tausend Wege, die die Jünger und Anhänger Jesu, seit das Blut der ersten Märtyrer in den Arenen der Römer vergossen wurde, in der ganzen Welt zurückgelegt hatten.
»Wir müssen es um jeden Preis verhindern. Was hier geschieht, ist wahnsinnig. Wir müssen es schaffen, bevor es zu einer Befruchtung kommt. Haben Sie mich verstanden? Wir müssen unbedingt schneller sein.«
Er wandte sich wieder Lorenzo zu, sein Gesichtsausdruck war tief besorgt.
»Haben Sie das verstanden? Dieses Kind darf nicht geboren werden!«
♦♦♦
Ein BMW mit getönten Scheiben fuhr über den Ring. Ernst Heinrich blickte zerstreut auf die Fassaden der Gründerzeit, auf das Rathaus, das Parlament, die Oper und das Burgtheater. Wien war ständiger Sitz der OPEC, der Atomenergiebehörde und der ONIDO, der Organisation für industrielle Entwicklung der Vereinten Nationen. Die beiden Institutionen machten die österreichische Hauptstadt zur drittgrößten Stadt der Vereinten Nationen nach New York und Genf. Wien war der ideale Standort für WerkersMedias, die so unterschiedliche Zweige wie Elektronik, Finanzen, Zeitungen – etwa vierzig – und Pharmaforschung umfassten. Ernst Heinrich war der Chef der Gruppe. Sein kantiges Gesicht und seine grauen Schläfen bildeten einen merkwürdigen Gegensatz zu seinen blonden Augenbrauen. Ernst Heinrich war vierundsechzig. Aber sein Gesicht hatte sich seine jugendliche Energie und Entschlossenheit bewahrt.
Der Chauffeur hatte Mozarts Krönungsmesse in den CD-Player geschoben. Ernst klopfte im Takt der glasklaren Klänge, die sich im Wagen ausbreiteten, auf die lederne Sitzlehne. Er warf einen Blick auf die Uhr. Er hatte noch Zeit, um in sein Büro zu fahren. Er hielt sich derzeit in seinem Hauptquartier auf, um sich den laufenden Geschäften, aber vor allem der Operation am Sinai zu widmen. Er kam gerade von einer Ausstellungseröffnung in der Galerie der Akademie der Künste zurück, die er mit einem großzügigen Betrag bedacht hatte. Er hatte die Gelegenheit genutzt, ein Bild zu kaufen, auf das er seit langem ein Auge geworfen hatte und das jetzt sorgfältig verpackt neben ihm auf der Rückbank stand.
Das war der Kurator ihm schuldig gewesen.
Ernst Heinrich hatte sich vor fünfzehn Jahren in Wien niedergelassen und seine Wahl nie bereut. Er hatte den Charme des Wiener Lebensstils, der seinem Temperament sehr entgegenkam, schon immer genossen. Er besuchte das erzherzogliche Palais der Albertina, ging zwischen den vielen Statuen und Wasserbecken des Volksgartens spazieren oder besuchte die Konzerte der Wiener Philharmoniker und Symphoniker. In einer Stunde müsste er in der Oper sein, wo Der Ring der Nibelungen aufgeführt wurde. Aber darauf musste er heute leider verzichten. Es gab erst einige Dinge zu regeln. Zunächst musste er allerdings seinem Sohn Bescheid geben. Hoffentlich würde Fritz es ihm nicht verübeln, dass er ihn versetzte.
Der BMW erreichte endlich den Glasturm, das Wahrzeichen von WerkersMedias, und Ernst Heinrich stieg aus. Er beugte sich zum Chauffeur:
»Seien Sie so nett und sagen Sie Sandor, er soll das Bild hinaufbringen.«
Dann blickte er zufrieden auf das riesige Gebäude, holte tief Luft und näherte sich den Glastüren. Sie öffneten sich mit einem Seufzer. Ernst Heinrich durchschritt die Sicherheitsschleuse und ging zum Aufzug, um in die oberste Etage zu fahren. Während er aus der gläsernen Kabine
Weitere Kostenlose Bücher