Die Lanze des Herrn
taten übrigens nichts Illegales, noch waren sie legal, zumindest bis heute hatte sich Ernst Heinrich gehütet, die rote Linie zu überschreiten.
Als er endlich in seinem Büro in der Turmspitze angelangt war, begrüßte er seine Sekretärin im Vorzimmer, nahm sich ein Glas Wasser und stellte sich eine Weile an sein riesiges Fenster. Von hier aus beherrschte der Blick die Stadt. In der Ferne sah er Schloss Schönbrunn, die einstige Sommerresidenz der habsburgischen Kaiser, mit seinen eleganten französischen Gärten ein Wiener Juwel. Das Stadtzentrum mit seinen schönen alten Gebäuden schien von ganz eigener Energie. Die Schilder der Cafés begannen in der Abenddämmerung aufzuleuchten, Wolken legten sich über die Stadt wie ein Leichentuch. Ernst Heinrich suchte mit den Augen die Staatsoper, zögerte ein letztes Mal, ob er nicht doch sein Versprechen einhalten sollte, sich dort mit seinem Sohn zu treffen. Schließlich verließ er das Fenster und sprach mit seiner Sekretärin über die Sprechanlage auf seinem Schreibtisch.
»Fräulein Bergens?«
»Ja, Herr Heinrich?«
»Rufen Sie bitte Fritz an und teilen Sie ihm mit, dass ich verhindert bin. Sagen Sie ihm, es tut mir sehr leid. Er wird Verständnis haben. Fragen Sie ihn, ob er am Donnerstag mit Agatha zum Abendessen kommen will, es würde mich sehr freuen, sie wiederzusehen.«
»Wird erledigt.«
»Vielen Dank.«
»Ach ja, Ihr Bild ist angekommen. Darf Sandor es jetzt aufhängen?«
»Ja, natürlich, er soll hereinkommen.«
Das Aufhängen dauerte nicht lange, und bald war Ernst Heinrich wieder allein. Während er langsam die Eisstückchen in seinem Glas drehte, betrachtete er zufrieden seinen Neuerwerb. Es war ein religiöses Thema aus der Schule Raffaels. Ob es wirklich echt war, interessierte Ernst Heinrich eher wenig. Dafür interessierte ihn das, was auf dem Bild dargestellt war, umso mehr, denn es passte wunderbar in seine Sammlung.
Unter einem zerrissenen Wolkenhimmel stieß Longinus die Lanze in die Seite Jesu. Die Bildkomposition erweckte den Eindruck, als würde der Legionär von einem der Blitze am Firmament getroffen, die die Szene beleuchteten. Die drei Kreuze zeichneten sich vor dem dunklen Hintergrund ab; desgleichen die heiligen Frauen, die sich um den Gekreuzigten geschart hatten. Das Blut lief an seiner Seite herab. Die Lanze. Ernst Heinrich lächelte. Die Lanze hatte ihn schon immer fasziniert. Und jetzt war sie in seinem Besitz und konnte vielleicht seinen Traum verwirklichen. Er hob die Augen zu dem Bild und musste leise lachen bei dem Gedanken, dass er vor nichts zurückschreckte. Er fühlte, wie seine Obsession ihn von Neuem packte, und jubilierte insgeheim. Beinahe hätte er vor Erregung gezittert. Seine Hände wurden feucht, und er verspürte ein angenehmes Frösteln. Es war ein äußerst riskantes Spiel, auf das er sich eingelassen hatte. Er wusste natürlich, dass ihm niemand auf die Spur kommen würde und er geschützt war. Für seine Angestellten traf das allerdings nicht zu. Die Forscher in den Labors fürchteten ihn und das aus gutem Grund. Er würde ihnen Beine machen. Das machte die Sache für ihn nur noch aufregender.
Er prostete dem Gemälde zu und lachte wieder.
»Ach ja, meine braven Freunde, reißt euch nur ein Bein aus!«
♦♦♦
Der Lärm von Zügen, Sirenen und verzerrten Lautsprecheransagen hallte im Bahnhof von Alexandria wider. Judith ging mit schnellen Schritten voran, Anselmo folgte ihr und trieb dabei seinen aufmüpfigen Gefangenen mit kleinen Rippenstößen vorwärts, um ihn daran zu erinnern, dass zwei Waffen auf ihn gerichtet waren. Sie bahnten sich möglichst unauffällig einen Weg durch die Menge. Der Österreicher machte ein finsteres Gesicht. Mit angespannter Miene suchte er nach einer Fluchtgelegenheit. Er schien zu allem bereit, doch Anselmo war wachsamer denn je und hatte ihn unter Kontrolle. Als Judith ihr Handy vibrieren spürte, verlor sie keine Sekunde, es zu öffnen.
»Judith Guillemarche.«
»Judith, hier ist Dino Lorenzo.«
»Was gibt’s Neues?«
»Ich komme gerade aus einer Besprechung mit dem Heiligen Vater. Gehen Sie ins Hotel oder in die Bibliothek, und ich schicke Ihnen alles, was wir haben. Es ist wenig genug.«
»Ich habe eine Überraschung für Sie«, sagte Judith mit einem Blick auf den Österreicher. »Aber berichten Sie zuerst.«
»Axus Mundi ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine neomessianische Sekte aus den USA, Europa oder dem Osten. Wir vergleichen unsere Daten im
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