Die Lanze des Herrn
verfolgte, wie er sich immer weiter über die Dächer der Hauptstadt erhob, dachte Ernst nicht ohne Stolz an alle Stufen, die er erklommen hatte, bis er an dieser Stelle angekommen war.
Seit ihrer Gründung 1976 hatte die WerkersMedias einen fulminanten Aufstieg erlebt. Nur wenige wussten, woher Ernst Heinrich kam. Sein Vater Viktor, der zum Kreis um den Reichsstatthalter Seyß-Inquart und die Besatzungsgeneräle gehörte, hatte seine Mutter 1938 nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland kennengelernt. Er handelte mit Kunst und befasste sich mit politisch motivierten Ausgrabungen. Seine Frau Inga war Professorin an der angesehensten österreichischen Universität. Sie hatte Viktor am 12. April 1941 geheiratet, genau drei Jahre nachdem sich die Österreicher fast einstimmig für den Anschluss an das deutsche Reich ausgesprochen hatten. Ernst wurde ein Jahr später geboren. Seine Eltern hatten während des Kriegs ein riesiges Vermögen angehäuft. Nach Kriegsende ließen sie sich in Deutschland nieder. Ernst Heinrich studierte dort Volks- und Betriebswirtschaft, machte einen brillanten Abschluss und übertraf noch alle Erwartungen seiner Eltern. Mit Unterstützung seines Vaters baute er einen Investmentfonds auf, mit dem er das Familienvermögen vermehrte und später seine erste Zeitung kaufte. Dank des Medienbooms der Achtzigerjahre blieb es nicht bei dieser einen. Danach hatte er sich auf Unternehmensberatung, Firmenkauf und Fusionen spezialisiert und mit dem Aufschwung der Informationstechnologie der Neunzigerjahre und dem Internet sein Vermögen noch weiter vergrößert. Seine Rückkehr nach Österreich an der Spitze eines Firmenimperiums hatte für ihn auch symbolischen Charakter. Die Machenschaften seines Vaters als Sympathisant der Nazis waren eines Tages aufgeflogen und sein Vater hatte sich mit seiner Frau nach Uruguay zurückziehen müssen. Er hoffte eine Weile auf die Protektion der Jesuiten, diese jedoch hatten, anstatt ihm zu helfen, die Informationen an den Vatikan weitergegeben, der sie wiederum der World Jewish Organization überlassen hatte. Eines Morgens erfuhr Ernst, dass sein Vater, der seit einiger Zeit krank und depressiv war, sich mit seiner Frau in ihrem Haus in Montevideo das Leben genommen hatte.
Viktor hatte sich für alles Esoterische begeistert. Er hatte seinem Sohn von der Lanze erzählt und seine Leidenschaft an ihn weitergegeben. Aber nie hätte Ernst Heinrich geglaubt, eines Tages die Kostbarkeit in den Händen zu halten. Sein geschäftlicher Erfolg hatte wenig mit seinem letzten Endes etwas merkwürdigen Vater zu tun. Die Welt hatte sich geändert. Ernst besaß vor allem »Geschäftssinn«, wie er zu sagen pflegte. Er hatte zwar zahlreiche Freunde in verschiedenen politischen Lagern, aber mit den österreichischen Rechtsradikalen hatte er nie geliebäugelt. Ihn faszinierte der technologische Fortschritt seiner Zeit, und er jagte allen erdenklichen Patenten nach. Axus Mundi hatte er aus einer Laune heraus gegründet. Die Agentur oder der Verein, wie er es manchmal bezeichnete, sollte ursprünglich nur die Forschungen seines Vaters fortsetzen. Im Lauf der Zeit interessierte er sich jedoch immer mehr für den »Geschäftszweig« Axus Mundi, denn man beschäftigte sich dort mit immer brisanteren Dingen.
Axus Mundi war keine Sekte von Kapuzenmännern, die dunklen Machenschaften frönten. Es war in erster Linie ein Unternehmen, das sich zukunftsbezogenen Projekten verschrieben hatte, um sich den Herausforderungen der neuen Zeit zu stellen und Grenzen zu verschieben – nicht mehr territoriale Grenzen oder die Grenzen der Raumfahrt, sondern die des unendlich Kleinen und der Erkenntnis des Lebens.
WerkersMedias arbeitete im Bereich der klassischen industriellen Technologie. Das unsichtbare Axus Mundi hingegen hatte sich auf Durchbrüche in den Bereichen der Biotechnologie, künstlichen Intelligenz und Nanotechnologie spezialisiert. Das waren wichtige Märkte, auf denen Patente viele Millionen Dollar wert waren und das Gesicht der Welt von morgen bestimmten. Zu allen Zeiten hatte man sich davor gefürchtet, die Mittel zur Beherrschung der Natur zu revolutionieren. Die Kirche war in dieser Hinsicht besonders konservativ gewesen. Heute ging es darum, sich über alte Vorurteile hinwegzusetzen und das in Besitz zu nehmen, was zum Greifen nahe war. Und, vor allem, der Erste zu sein. Die Labors von Axus Mundi in den USA, Australien und Südkorea widmeten sich tagtäglich diesem Ziel. Sie
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