Die Lanze des Herrn
der ihnen vorliegenden genetischen Sequenzen nicht länger nur die Entstehung einer neuen menschlichen Rasse, sondern des neuen Menschensohns, oder besser des Enkels des Menschensohns, wie es der koreanische Wissenschaftler ausgedrückt hatte.
Die vier Forscher kamen nach mehreren Stunden zusammen, um sich über die Fortschritte ihrer Teams auszutauschen.
Sie hielten sich in einem der keimfreien Räume gleich neben dem Großen Saal auf. Professor Ferreri hatte ein Reagenzglas mit sieben Mikrogramm gewonnene DNA in der behandschuhten Hand.
Alle blickten einen Moment auf das Glas, in dem sich das fahle Neonlicht spiegelte.
Die Lösung enthielt mehrere Milliarden Zellen, von denen jede einzelne die Spuren des genetischen Materials Jesu enthielt, darunter das Allel Longinus X².
Das Team des Professors hatte die Zellen mithilfe eines Serums präpariert, das dem sehr ähnlich war, das Professor Wilmut für die Klonschafe Dolly, Polly und Tuffy benutzt hatte. Die Wissenschaftler vom Sinai hatten ihr Material in Nährlösung gelegt, wodurch sich die von ihnen benötigten Zellen vermehrten. Die vergangenen Stunden hatten die Teams damit verbracht, sich mit den Graphen der Sequenz Jesu auf einem Leuchtschirm zu befassen, um sie Stück für Stück zu entschlüsseln und vor allem das geheimnisvolle neue Allel zu analysieren.
Die vier Wissenschaftler betrachteten das Reagenzglas mit dem letzten Geheimnis der Schöpfung. Nun ging es darum, mit Hilfe dieses in der Welt einmaligen Allels den Schleier über dem Mysterium des Geistes zu lüften. Sie waren ergriffen, dass sie nun kurz davor standen, das Experiment ihres Lebens durchzuführen, zugleich aber hatten sie große Angst, denn von seinem Gelingen hing auch ihr eigenes Schicksal ab. Niemand wusste, wie Ernst Heinrich reagieren würde, wenn sie Schiffbruch erlitten. Darüber dachten sie lieber nicht nach. Glücklicherweise waren die Zellteilungen bisher normal verlaufen.
Noch vor wenigen Jahren wäre ihr Vorhaben undenkbar gewesen. Zum Klonen des Schafes Dolly waren gut tausend Eizellen notwendig gewesen und man hatte 278 Versuche durchführen müssen, bis einer zum Erfolg führte. Durch Stimulierung der Eierstöcke einer Frau konnten Wissenschaftler im Schnitt zehn Eizellen gewinnen. Um nach demselben Schema wie bei dem Schaf vorzugehen, hätte man an die hundert Frauen gebraucht, um tausend Eizellen unter Narkose entnehmen zu können. Selbst unter Mitarbeit zahlreicher Krankenhäuser weltweit wäre die Aussicht auf ein Gelingen minimal gewesen.
Außerdem hatte die Dolly-Methode noch einen anderen schweren Nachteil. Selbst bei einer ausreichenden Zahl Eier musste man jeden Embryo einer Leihmutter einpflanzen. Im Fall von Dolly waren es 29 gewesen. Dies bedeutete, dass man mindesten dreißig Frauen hätte finden müssen, die bereit gewesen wären, ein Kind auszutragen, ohne darüber informiert zu sein, worum es eigentlich ging. Die Erfolgschance wäre also eins zu tausend gewesen.
Aber solche Hindernisse lagen gut zehn Jahre zurück. Damals arbeitete der Italiener Ferreri noch für die Stiftung Bios. Sein Kollege Li-Wonk hatte gerade Jouy-en-Josas und das europäische Programm der Stiftung verlassen und sich in ein Labor auf der südkoreanischen Insel Cheju zurückgezogen. Dort lernte er den Japaner Yzamata kennen. Die Gründung ihres Teams durch Axus Mundi war von einschneidender Bedeutung gewesen. Der geheimnisvolle Ernst Heinrich war mit äußerster Umsicht und größter Diskretion auf sie zugekommen. Er war offensichtlich gut informiert, denn er hatte sie alle zu einem Zeitpunkt angesprochen, da ihre Karriere endgültig vor dem Aus stand. Jeder von ihnen entschloss sich aus anderen Gründen zur Mitarbeit. Die Professoren Li-Wonk und Ferreri glaubten an die Wissenschaft. Professor Yzamata wollte der Justiz entkommen und sein Kollege Sparsons ebenfalls. Bei diesem kam jedoch noch das Motiv hinzu, das er »fun« nannte. Er hatte Spaß an der Sache. Für alle zählte Geld, die Aussicht auf eine sorgenfreie Zukunft und eine spektakuläre Rückkehr in die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft. Ernst Heinrich hatte auch die anderen Wissenschaftler für das Sinai-Labor nach ähnlichen Kriterien rekrutiert.
Was wird jetzt geschehen?, fragten sie sich beim Anblick der Lösung in dem Reagenzglas.
Am vierzehnten Tag waren erste Anzeichen dafür zu sehen gewesen, dass der Weg zur Entwicklung der Organe des Fötus geebnet war. Es handelte sich um einen unter dem
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