Die Lanze des Herrn
tatsächlich kam. Zweifel würden sich in den Köpfen breitmachen. Jede kritische Haltung wäre vergessen. Es würde zu einer Flut von Publikationen kommen, die Zeitungen würden sich verkaufen wie warme Semmeln. Alle würden sich mit derselben Frage befassen, recherchieren und Interviews mit berühmten Fachleuten bringen. Es würden Vorworte und Nachworte geschrieben, um das Wahre vom Falschen zu trennen, und alle würden unaufhörlich weiter berichten, denn sein Spielchen war nicht nur Futter für das Massenpublikum, sondern auch eine ausgezeichnete Gelegenheit, das große Geld zu scheffeln. Es würde zu Indiskretionen kommen, aber sie würden ihm in die Hände spielen. Es kam nur darauf an, sie zu entdecken und zum Bumerang werden zu lassen. Er würde sogar selbst für Indiskretionen sorgen und sie so einsetzen, wie es ihm Spaß machte! Die Freiheit des Menschen war eine Sache, aber die Grundlage der erdrückenden inneren Logik der Massenmedien eine andere. Er beherrschte das Einmaleins mühelos, das da lautete: Sensationen bringen, Angst machen. Und wenn das Experiment gelang… würde er ein einzigartiges Patent besitzen.
Seine Leute würden es schaffen, dessen war er sich ganz sicher. Bei diesem Gedanken überkam Ernst Heinrich von Neuem freudige Erregung. War ihm und diesen Forschern eigentlich klar, was sie da taten? Aber ja doch, sie wussten es genau. Und sie würden Erfolg haben. Sie schufen das Neue Jerusalem, die neue Stadt Gottes. Hieß es nicht vom himmlischen Jerusalem, es sei der Nabel der Welt? Diesmal ging es darum, das irdische Jerusalem zu errichten, dessen für das bloße Auge unsichtbarer Tempel die Wissenschaft und der Uterus das neue Allerheiligste sein würden. Dank ihm, Ernst Heinrich, würde der alte Traum des Prometheus wahr. Man würde sich dem Zorn der Götter stellen. Man würde das Feuer des Himmels stehlen, das Feuer des verbotenen Wissens, der verbotenen Künste, um es den Menschen zu schenken. Danach strebte die Menschheit, seit es sie gab. Ernst lachte über seine schöne Formulierung.
Die Stadt Gottes. Das Neue Jerusalem. Das himmlische Feuer.
E-I-N K-L-O-N J-E-S-U I-M U-M-L-A-U-F
Das Gefühl, die Welt in der Hand zu haben, war sehr seltsam. Ernst Heinrich sah auf den blinkenden Cursor am Ende seiner Schlagzeile und entschloss sich, sie zu ergänzen.
EIN KLON JESU IM UMLAUF?
Wieder sah er zu den Bildschirmen.
Er fragte sich, welche Illustration zu diesem Aufmacher am besten passte.
Einen Moment lang sah er auf das Bild an der Wand, auf den Legionär mit der Lanze unter dem von einem Blitz zerrissenen Himmel.
6. Kapitel
Labor Axus Mundi, 2006 Hotel Cecil, 2006 Vatikan, 2006 Wüste Sinai, 2006
»Wenn die Erkenntnis und die Herrschaft Jesu Christi, wie es gewiss ist, in die Welt kommen, dann ist dies nur die notwendige Folge der Erkenntnis der allerheiligsten Jungfrau Maria, die ihn zum ersten Mal auf die Welt gebracht hat und es zum zweiten Mal geschehen lassen wird.«
Saint Louis-Marie Grignion de Montfort, Die wahre Verehrung Mariens
Um zwei Uhr morgens stellte Frank Duncan auf seinem Weg durch den unterirdischen Teil des Labors am Sinai fest, dass der Verdacht Ernst Heinrichs berechtigt sein könnte. Er ging im Eilschritt die neonbeleuchteten Flure entlang und öffnete mit seiner Magnetkarte einen der Räume neben dem Büro Professor Li-Wonks. Die Tür schwang mit einem Seufzer auf, und Frank Duncan blickte forschend in den Raum. Ein Mitarbeiter des Zentrums saß allein vor einem Rechner, der deutlich erkennbar in Betrieb war. Durch den unerwarteten Besuch aufgeschreckt, fuhr der Mann hoch. Im Großen Saal wurde trotz der späten Stunde noch gearbeitet, aber was machte jemand an diesem Rechner, der nur von Professor Sparsons benutzt werden durfte? Und wie hatte sich der Mann Zutritt zu diesem Raum verschafft?
Frank Duncan wusste von Ernst Heinrich, dass unautorisierte E-Mails verschickt worden waren und es unter den Wissenschaftlern vielleicht einen Maulwurf gab, was schlimme Folgen haben könnte. Allerdings, denn wir könnten alle im Kittchen landen, sagte sich der Sicherheitschef seufzend und fluchend, als er davon erfuhr. Ernst Heinrich war sich seiner Sache nicht sicher, war aber beunruhigt, dass der Vatikan, die Ägypter und die Israelis mit ihren Ermittlungen so schnell vorankamen. Er hatte Frank Duncan aufgefordert, das Problem intern zu lösen.
Duncan fluchte erneut. Die Sache war typisch für die Problematik moderner
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