Die Lanze des Herrn
Alexandria und warf anschließend einen Blick auf die Uhr. Es war schon drei Uhr morgens. Anselmo war im Nachbarzimmer untergebracht. Auch er hatte Erholung nötig. Aber vielleicht wälzte er sich im Bett, weil er ebenfalls nicht schlafen konnte.
Judith trank einen Schluck Wasser. Sie sah auf das dunkle Meer, das hier und da im Mondlicht glänzte. Sie fühlte sich erschöpft und nervös zugleich. Bei Sonnenaufgang würden sie zum Katharinenkloster aufbrechen. Trotz der Kühle der Nacht hatte sie nur ihren Mantel über ihr kurzes Nachthemd gezogen. Ihr blondes Haar bewegte sich in der Brise. Sie sah zu den Sternen auf und dachte an Pater Fomberts Entdeckung.
Konnte er recht haben?
Judith wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Sie sah hinauf zu dem riesigen Himmelsgewölbe mit seinen Abertausenden von Sternenkonstellationen. Die unzähligen Geheimnisse des Universums. Wieder stellte sie sich dieselbe Frage. Und wartete.
Auch die Essener hatten damals gewartet. Ihre Hoffnung hatte nicht einem Messias gegolten, sondern zweien. Der königliche Messias, Abkömmling von David und Heerführer des endzeitlichen Krieges, sollte als Erster kommen, um den Frieden in Israel zu sichern und die Feinde Gottes zu besiegen. Danach sollte der priesterliche Messias kommen, der Sohn Aarons, der die Nationen beherrschen sollte. Verschiedene biblische Texte und apokryphe Evangelien sprachen von diesem doppelten Messias. Verwirrt sagte sich Judith, wer hätte gedacht, dass er von der modernen Wissenschaft hervorgebracht würde, durch einen skandalösen Versuch, die Religion zu pervertieren? Auf dem unwahrscheinlichen, furchterregenden Weg des Klonens? Der Bezug zwischen den alten Symbolen und der neuen Hexerei erschreckte sie zutiefst. Der König, den die Hohepriester von Axus Mundi beschworen, hatte alle Aussichten, nicht der priesterliche Retter der Essener zu sein, sondern der Antichrist oder der falsche Prophet. Das hatte Damien Seltzner offenbar sagen wollen, als er auf die Zeichen in der Kapelle von Megiddo, darunter die blasphemische Pietà, hingewiesen hatte.
»Diese Symbole sind nicht zufällig da«, hatte er gesagt. »Für die, die sie geschaffen haben, bedeuteten sie die Zukunft. Die Wiederkehr des Messias oder des Antichristen, des falschen Propheten, der sich als Messias ausgibt. Als mischte sich die Endzeitvision der Essener auf einmal mit dem Entsetzen des Armageddon.«
Judith legte die Hand an den Mund.
»Wissen Sie, welche Bedeutung der Lanze nach der Überlieferung zukommt?«, hatte Seltzner weiter gesagt. »Sie symbolisiert die allerhöchste Macht, die Waffe der Vernichtung, das Ende des Menschen. Wer die Lanze besitzt, soll die Welt beherrschen können. Sind Sie jemals auf die Idee gekommen, dass diese Apokalypse metaphorisch gemeint sein könnte? Darauf weisen die Mosaiken hin. Auf die Metapher des Weltendes, auf das Ende einer Welt. Es wird prophezeit, dass der Mensch Mittel und Wege finden wird, sich selbst zu zerstören. Als Beispiel braucht man nur an die Atomkraft zu denken. Nur dass es diesmal um ein inneres atomares Feuer geht.«
Judith musste an die Illumination im Kodex des Katharinenklosters denken, an den Templer, der stolz seine Lanze hochhielt, während er aus der Festung von Akko hinausritt. So unglaublich es schien, man konnte die Miniaturen des Kodex Paulus, den Pater Fombert wiederentdeckt hatte, und die Symbole von Megiddo als düstere Prophezeiung verstehen, jene Visionen auf den Mosaiken, von den Essenern in Auftrag gegeben, den Hütern der Kapelle, die Longinus einer Eingebung folgend erbaut hatte. Der Dämon, der das Kind wiegt.
Oh mein Gott, dachte Judith, er kommt also zurück? Sie nahm den Kopf in beide Hände.
Sie konnte sich unschwer vorstellen, was diese wenigen Worte bedeuteten: ER kommt zurück.
Judith blickte auf die Stelle, wo früher der Leuchtturm gestanden hatte, ein Licht, das der Welt heute so sehr zu fehlen schien. Sie dachte an die letzten Worte, die der sterbende Archäologe über die Neue Maria gesagt hatte. Jetzt war ihr klar, was er gemeint hatte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Hatte Axus Mundi tatsächlich eine Frau für eine neue Unbefleckte Empfängnis bestimmt? Eine Empfängnis ohne natürlichen Vater auf dem Weg der Verbindung einer DNA mit einer Eizelle, die der Leihmutter eingesetzt wurde? Standen die neuen Hexer kurz davor, die neue Jungfrau zu befruchten?
Nein, das ist ja Wahnsinn, absoluter Wahnsinn. Das dürfen wir nicht geschehen lassen!,
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