Die Lanze des Herrn
und von einer besseren Welt träumte. Die Selbstaufgabe in der Religion hatte sie Christus nahegebracht. Der Friede, den sie vor der Bucht des Mont-Saint-Michel gefunden hatte, vor dem Meer oder der Schönheit in der Kunst. Sie weigerte sich zu denken, dass ihr Glaube sich nur aus der Angst vor dem eigenen Tod speiste. Hatte sie immer zu fliehen versucht? Was sollte sie heute machen? Vor dem Nichts, dem Gefühl der Leere und des Absurden, das sich ihrer bemächtigt hatte, musste sie ein neues Fundament finden. So war sie hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, der Welt nützlich zu sein, und dem Wunsch, sich ihr zu entziehen, sie für immer zu verlassen, ihre Torheit hinter sich zu lassen. Dieser Zwiespalt war schon immer typisch für sie gewesen.
Und während sie versuchte, wieder in die Gegenwart zurückzukehren, erinnerte sie sich noch einmal an die Worte des Archäologen Seltzner, als er aus der Apokalypse die Erscheinung der gekrönten Jungfrau zitierte. Das Bild faszinierte sie. »Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt.« Die Krönung Marias im Himmel feierte die Kirche seit Jahrhunderten. Laut der Überlieferung war Maria nach ihrer Himmelfahrt von der Dreifaltigkeit empfangen worden und alle himmlischen Heerscharen waren Zeuge ihrer Aufnahme in den Himmel. Ja, darin steckte viel Poesie. Und auch Maria kam wieder zurück. Aber wie Christus lief sie Gefahr, nicht durch die Hand Gottes wiederzukehren, sondern durch die des Menschen.
Er kehrte wieder, aber sie kehrte ebenfalls wieder.
In der Überlieferung hieß es jedoch, dass die Neue Maria dem Dämon gegenübertreten musste.
Judith sah auf.
Aber sie durfte ihn nicht gebären.
Judith legte die Hand an den Mund. Plötzlich wurde ihr das ganze Ausmaß des Dramas klar. Die Rückkehr Christi, die Rückkehr Mariens. An welchen Wahnsinn wollte man die Menschheit glauben lassen? Denn im allerschlimmsten Fall, das heißt, wenn tatsächlich ein Kind geboren würde, wäre es in erster Linie ein Kind. Ein Kind, Gott im Himmel. Manipuliert, unschuldig und allein. Das Kind der Zukunft. Ein menschliches Wesen, ohne Bewusstsein, ohne Wissen über die Umstände seiner Entstehung und seines Ursprungs. Ein Kind wie jedes andere, das vor allem Liebe brauchte.
Judith stand noch immer auf dem Balkon. Sie zitterte vor Kälte. Ihr Nachthemd und ihr leichter Mantel wehten im Wind. Sie musste stark sein. Wieder Zuversicht gewinnen. Auf ihre innere Stimme hören, sie zwingen, zu ihr zurückzukehren. Und während sie auf die Bucht von Alexandria blickte, die Fäuste geballt, wiederholte sie für sich das Bekenntnis, das sie so oft gesprochen und gehört hatte. »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde…«
Liebe, Liebe, Liebe. Und Achtung vor dem Menschen!
So lautete die Botschaft Christi.
Allein das war es wert, verteidigt zu werden, allein dafür würde sie kämpfen.
Dann würden die Masken der Betrüger fallen!
Ein letztes Mal blickte sie auf den weiten Bogen der im Mondlicht glitzernden Bucht.
Dann ging sie in ihr Zimmer und legte sich schlafen.
♦♦♦
Die Glocken von St. Damasius läuteten. Es war sechs Uhr morgens.
Die Räume des Papstes waren erleuchtet, und auch im Büro Dino Lorenzos brannte Licht. Beide hatten wenig geschlafen. Der Kardinal war nicht überrascht, als nun Emily Banner den Kopf durch die halboffene Tür steckte.
Emily war knapp vierzig, ihre markanten Gesichtszüge ließen sie jedoch älter erscheinen. Die Ringe unter ihren Augen und ihr schwarzes Gewand verstärkten ihr strenges Aussehen. Normalerweise sorgten die kleinen Krähenfüße um ihre Augen dafür, dass sie fröhlich aussah, aber als Kardinal Lorenzo sie im grauen Morgenlicht sah, schien sie ihm durch die Ereignisse sichtlich gealtert. Spontan fühlte er sich weniger allein.
Mit etwas steifen Schritten kam sie auf den Kardinal zu und sagte, während sie ihm zwei bedruckte Seiten hinlegte, auf denen »vertraulich« stand:
»Zwei neue Nachrichten. Aus zwei verschiedenen Quellen. Die erste kommt tatsächlich vom Sinai, ganz ohne Zweifel. Woher die andere kommt, weiß ich nicht. Ich habe sie an die Monsignori Acquaviva und Almedoes weitergeleitet, aber sie sind noch nicht im Haus.«
Der Kardinal sah sich die Nachrichten an. Blass geworden sagte er:
»Versuchen Sie, der zweiten E-Mail nachzugehen. Ich spreche
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