Die Lanze des Herrn
dachte Judith.
Die Zerstörung des Menschen und seiner Würde, darum ging es Axus Mundi unter dem Deckmantel des wissenschaftlichen Fortschritts. Ob nun Christus oder jemand anderes, sobald dieser Schritt getan war und die Welt vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, würde nichts mehr sein wie früher.
Die Vorstellung schockierte sie zutiefst. Die Figur der Maria ließ sie nicht los. Während sie auf das schweigende Meer und den geheimnisumhüllten Himmel blickte, spürte Judith wieder den tiefen Kummer, den sie seit ihrem Abflug nach Kairo fast vergessen hatte. Im Licht ihrer Mission war ihr privates Problem eigentlich ganz unbedeutend, aber sie hatte mehr denn je das Bedürfnis, sich selbst, das Motiv ihres Handelns zu verstehen. Seit einiger Zeit zweifelte sie an ihrer Aufrichtigkeit. Die Seele… die Seele! War die nicht das Wichtigste? Hatte sie vergeblich geglaubt? Gab es etwas, was sie nicht mehr verstand? Unwillkürlich stiegen ihr Tränen in die Augen.
Seit sie nach Ägypten gekommen war, hatte sie viele aufregende Dinge erlebt. Und jetzt, wo sie an Maria dachte und an ihren eigenen Leib, verkrampfte sich ihr der Magen. Was konnte sie für ihr Leben erhoffen, wenn es ihr versagt blieb, Mutter zu werden? Wer würde sein Leben mit ihr teilen, wenn sie keine Kinder bekommen konnte? Sollte sie versuchen, ein Kind zu adoptieren, auch wenn sie noch keinen Vater gefunden hatte? Oder sollte sie doch ins Kloster eintreten, obwohl ihr das kaum noch möglich schien? Sie hörte wieder den Arzt, der mit erhobenem Zeigefinger erklärt hatte, dass sie kein Kind bekommen könne.
Ihre Lippen zitterten. Eines machte ihr schwer zu schaffen: Sie war bereit, viel für andere zu tun, einen Teil ihrer Existenz dafür zu opfern, aber sie fühlte sich zugleich so ohnmächtig, weil ihr das Leben die Erfüllung ihrer Hoffnung versagte.
Sie brach in Schluchzen aus. Schnell legte sie die Hand auf den Mund und schloss die Augen.
Während sie sich hier mit ihren Problemen herumschlug, ging das Leben weiter, und die Welt stand Kopf. Es war bedrückend. Tsunamis folgten auf Völkermord, Alltagsdramen auf Katastrophen. Sie selbst arbeitete für den Vatikan in einer Sache, die das innere Gleichgewicht der Welt zerstören konnte. Sie musste sich unbedingt besinnen und noch einmal Gott suchen und um Hilfe bitten. Aber wenn sie auf ihre innere Stimme horchte, dann hörte sie nichts mehr. Früher hatte sie immer den Eindruck gehabt, dass höhere Mächte sie leiteten. Sie hatte das Gefühl gehabt, die für sie bestimmte Rolle zu spielen, sie war von der Hoffnung beseelt gewesen, ihr bescheidener Beitrag könne die Dinge voranbringen. Heute hatte sie keine Illusionen mehr, sie waren wie tote Häute von ihrer Seele abgefallen. Die Welt war für sie undurchschaubar geworden. Sie wurde immer düsterer, und alles, woran sie immer geglaubt hatte, war jetzt ohne Bedeutung. Gott war verschwunden und hatte die Schlüssel mitgenommen… Sie hatte also doch Zweifel. Konnte sie etwas dafür, wenn sich einige Menschen mit Macheten töteten, während andere in der Lage waren, Schafe zu klonen oder Christi DNA verwendeten, um ihren Machtwillen und ihre krankhaften Fantasien zu befriedigen? Wie konnte man das Leben nur so sehr verhöhnen, nichts weiter als einen Marktwert darin zu sehen? Sie verstand das alles nicht mehr. Wie sollte man gegen die ständige Wiederkehr des Chaos und des Absurden ankämpfen? Woher die innere Kraft nehmen, um der Gewalt dieser endlosen Brandung entgegenzutreten? Die Grundlagen ihrer Identität waren erschüttert. Alles, woran sie bisher geglaubt hatte, war in Frage gestellt. Sie hatte genug davon, in Frage gestellt zu werden – mehr als genug!
Beruhige dich, redete sie sich selbst gut zu. Man muss es nicht übertreiben.
Aber wo war die Wahrheit? Gab es sie überhaupt? Sie sehnte sich nach jemandem, der ihr zärtlich über die Stirn und ihr blondes Haar strich, um sie zu trösten.
Sie hatte Angst vor sich selbst.
Gott, ich will dich lieben, aber du musst mir dabei helfen!
Sie senkte den Kopf.
Vielleicht würde sie wieder Trost und Hilfe in der wohltuenden und zugleich schmerzlichen Selbstbetrachtung finden, die sie so oft praktiziert hatte. Vielleicht. Im Gebet, wie so oft. In der Meditation. Die sanften und schwierigen Momente, die sie mit sich selbst verbracht hatte. Sie sah sich, wie sie früher gewesen war, als sie aus einer schönen, beruhigenden Gewissheit heraus lebte. Sie sah sich, wie sie in einer Kirche saß
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