Die Lanze des Herrn
Man hatte überlegt, ob man die wahre Natur des Experiments preisgeben sollte. Selbstverständlich würde die Neue Maria, wie andere Leihmütter auch, gleich nach der Geburt auf das Kind verzichten müssen. Sollte man ihr aber auch sagen, dass der Säugling, sofern er geboren wurde, ein Klon war? Und sollte man ihr ferner mitteilen, welche DNA man ihr einpflanzen wollte? Wie sollte man ihr, wenn man das verschwieg, erklären, dass so viele Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden mussten und dass die Geburt geheim gehalten werden musste und in der Wüste in einem weit abgelegenen Labor stattfinden würde! Wissenschaftlich ließ sich das nicht begründen, auch wenn man zu den blumigsten Formulierungen Zuflucht nähme.
Andererseits waren viele menschliche »Versuchskaninchen« durchaus bereit, sich für alle erdenklichen medizinischen Experimente zur Verfügung zu stellen. Die Aussicht auf eine Million Dollar für den Eingriff und das Austragen des Kindes waren ein starker Anreiz. Aber die Leihmutter Professor Li-Wonks und seines Teams musste nicht nur zustimmen und medizinisch geeignet sein, sie musste auch ein schlichtes Gemüt sein. Ein sehr schlichtes Gemüt. Sollte man also ein armes Ding aus einer ägyptischen Vorstadt, einem palästinensischen Dorf oder einer israelischen Siedlung wählen? Doch das ging nicht. Die Leihmutter musste eine ganze Menge Voraussetzungen für das Experiment mitbringen. In einer Welt, die um das Goldene Kalb tanzte, lief man kaum Gefahr, auf moralische Bedenken zu stoßen. Es war nicht schwierig, eine unerfahrene Frau zu korrumpieren und zu kaufen. Ein paar Nullen auf einem Scheck hatten eine enorme Wirkung.
Anfangs hatten sie sich vorgestellt, ihre Kandidatinnen nacheinander anzusehen, und dann diejenige auszusuchen, die ihnen seelisch und körperlich am besten geeignet erschien. Das war zu der Zeit gewesen, als sie zwar einen Klon herstellen wollten, aber die Lanze noch nicht im Spiel war. Sie hatten sich standesamtliche Register besorgt, ärztliche Unterlagen, hatten Befragungsbögen ausgearbeitet, Aufzeichnungen mit Kamera und Tonband vorbereitet und Verhaltens- und Persönlichkeitstests entworfen. Ein Rorschach-Test, ein IQ-Test, eine gründliche körperliche Untersuchung, Blut- und Urinanalysen standen ebenfalls auf dem Programm und würden ein ganzes Spektrum von Kriterien ergeben, um zu einem richtigen Urteil zu gelangen.
Am Ende war alles vergeblich gewesen. Das Einfachste war nämlich gewesen, die Neue Maria aus den Kreisen von Axus Mundi zu rekrutieren.
Professor Li-Wonk sah den Amerikaner mit dem Mädchen in der Nähe des Bettes scherzen, und er musste an seine eigenen Überlegungen zu jener geheimen Wissenschaft denken, die man Embryologie nannte. Damals, lange bevor er von Axus Mundi angesprochen worden war, schrieb er in seinem ersten Buch »Believing in Science«:
»Der Embryo symbolisiert die Summe der Möglichkeiten des Seins. Sein Potenzial. Das Schicksal des Embryos und das Schicksal des Weltembryos bedingen sich gegenseitig. Wer die Herrschaft über den Embryo innehat, ist gleichzeitig Herr über die Welt und ihres Lebensatems. Die Vorstellung eines Weltembryos findet sich in allen Mythologien und alten Religionen. In der hinduistischen Mythologie ist es Hiranyagarbha. Das goldene Ei des Rigveda, Keim des kosmischen Lichts, ist das Lebensprinzip, von dem das Urwasser belebt wird. Auch die Erde, der Titan der Frühzeit, ist Nährmutter und Trägerin von Embryonen, denn in der Erde entwickeln sich die Minerale wie Früchte. Dieses Bild findet man ebenso bei den Babyloniern, den Chinesen wie im abendländischen Mittelalter.«
Den Ausschlag bei der Wahl der Leihmutter hatte Ernst Heinrich gegeben. Das junge Mädchen schien eine ganz gewöhnliche Jugendliche zu sein, und doch war sie wie ihr Mentor von einer Aura des Geheimnisvollen umgeben. Die Wissenschaftler wussten nichts über sie, außer dass sie zu Axus Mundi gehörte. Ein junges, sich leicht fügendes Mädchen, schön wie der Tag, mit gelocktem schwarzem Haar und klaren blauen Augen. Sie war Semitin und hatte keinerlei Krankheiten gehabt. Biologisch gesund, genetisch ideal, ausgewogen ernährt, intelligent, aber loyal. Alle Untersuchungen waren ermutigend ausgefallen und hatten die Richtigkeit der Wahl des Meisters bestätigt.
»Das Mineral reift im Schmelztiegel des Alchemisten wie der Fötus im Mutterschoß. Diese Entsprechungen sind äußerst verblüffend. Zu ihrer Erkenntnis bedarf es sowohl
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