Die Lanze des Herrn
wissenschaftlicher Intuition als auch poetischer Eingebung. Aber kam Fortschritt nicht schon immer durch den Vergleich des rauschhaft intuitiv Erfassten mit der Wahrheit des Experiments zustande? Die Symbolik des Hiranyagarbha verfließt mit der des großen alchemistischen Werks, in dem Angelus Silesius die Entstehung des Kindes der Weisen sah, oder auch als der Stein der Weisen bekannt. Die tantrische Alchemie der Taoisten entwickelt ähnliche Metaphern bei der Vereinigung von Essenz und Atem – Tsing und Ki –, aus denen der mysteriöse Embryo entsteht. Die Rückkehr zum Embryonalstadium ist gleichbedeutend mit dem Zustand ursprünglicher Unschuld. Der mysteriöse Embryo! Die Quelle der Unsterblichkeit!«
Die Befruchtung der Eier im Labor war ohne größere Schwierigkeiten vonstatten gegangen. Mit der Mikronadel hatte man das genetische Erbe Jesu in die entkernten Eizellen eingeführt. Das Team hatte den Versuch mehrfach wiederholen müssen, bis die Injektion gelungen war, ohne die empfindliche Membran der Eizelle zu zerstören. In einigen Eiern kam das Wachstum gleich am ersten Tag zum Stillstand, in anderen am zweiten oder dritten. Aber es war ja nur ein einziger lebensfähiger Embryo vonnöten, und er war an dem Tag entstanden, als Judith Alexandria verließ, um zum Sinai zu fahren. Erst war da eine Zelle gewesen, dann zwei, dann vier, dann sechs. Die DNA vervielfältigte sich von Zelle zu Zelle, bis ins Unendliche. Das Leben entwickelte sich.
Außerhalb eines menschlichen Körpers.
Blieb nur noch, dass der Embryo eingepflanzt werden musste.
Dies sollte am nächsten Morgen im Morgengrauen geschehen.
♦♦♦
Die Unruhe auf dem Gelände des Katharinenklosters war höchst ungewöhnlich. Vor den Mauern standen Jeeps und Lastwagen mit Planen. Inmitten byzantinischer Ikonen hatte man Tische aufgestellt, Rechner, Karten und Parabolantennen. Die Militärs kommunizierten durch knisternde Leitungen mit ihrer Führung. Mitten in dem Trubel waren die Mönche und ihr Abt, sanftmütig und leicht verstört.
Die Stunde nahte.
Judith und ihre Begleiter erreichten das Katharinenkloster am frühen Nachmittag. Sie waren am Flughafen Sharm el Sheik gelandet und mit einem Geländewagen auf der Straße nach Dahab über Wadi Nasib zum Kloster gefahren. Die majestätischen Berge um sie herum leuchteten in prächtigen Farben. Sie erinnerten an antike Kupferbergwerke und kostbare Gemmen, wie die Pharaonen sie einst liebten. Auf den gewundenen Straßen im Herzen der Wüste glaubte man die Schatten der großen Könige der Vergangenheit wahrzunehmen, die stets darauf bedacht gewesen waren, die Herrschaft über die Halbinsel nicht zu verlieren und ihre Macht über Nubien zu behaupten. Hinter einer Kurve der Sandpiste bot sich Judith plötzlich der atemberaubende Anblick des Katharinenklosters dar.
Am Ende eines engen Tals gelegen, bestand es aus einem rechteckigen, von hohen ockerfarbenen Mauern umgebenen Bau, dessen älteste Teile aus der Zeit von Kaiser Justinian stammten und wie eine Festung wirkten. Das Kloster, im Osten von einem Turm, im Westen von einem Kirchturm flankiert, dessen Glocken zum Gebet riefen, lag im Schutz der Berge. Es bestand aus verschiedenen ineinander verschachtelten Gebäuden, die durch labyrinthartige, teils überdachte Gänge verbunden waren. Die Wege waren von Zypressen, Sträuchern, Blumen und Spalierwein gesäumt. Auf dem Gelände standen mehrere Kapellen, die einst verschiedenen Konfessionen zugeordnet gewesen waren. Eine Moschee vor der Kirche erinnerte an die ägyptische Staatsreligion. Das Katharinenkloster war einzigartig. Bewohnt wurde es von griechisch-orthodoxen Mönchen und war die kleinste der autonomen orthoxen Kirchen. Der Abt des Klosters war gleichzeitig der Erzbischof von Sinai. Das Kloster besaß große Domänen, vor allem auf der Insel Kreta, in Zypern und auf anderen griechischen Inseln, aus denen es die für seine Existenz notwendigen Einkünfte erwirtschaftete.
Judith und ihre Begleiter wurden vom Abt empfangen.
Eine Stunde später richteten sich die Armeeeinheiten innerhalb der Klostermauern ein.
Früher hatten die Mönche die Nomaden, die sich an der Mauer versammelten, mit Lebensmitteln versorgt. Heute kamen tagtäglich Touristenbusse, und die Beduinen boten ihnen entlang der Sandpisten in der Nähe des Klosters Postkarten und Kamelritte an. Die Zugangsstraßen zum Kloster zu sperren und das Gebiet abzuriegeln, hatte mehrere Stunden in Anspruch genommen.
Gleich nach ihrer
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