Die Lanze des Herrn
Taille legte. Sie ließ ihren Blick über die Berge schweifen, die braunen und orangefarbenen zerklüfteten Gipfel vor dem blauen Himmel. Da tauchte plötzlich einer der Verantwortlichen der Operation, die passenderweise »Act of God« genannt worden war, vor ihr auf. Der Hauptmann, um die fünfzig, mit mattem Teint und rasiertem Schädel, sah sie durchdringend an. Er überzeugte sich, dass ihr Gürtel und ihre Weste richtig saßen, und hielt ihr anschließend einen Revolver hin.
Judith traten fast die Augen aus dem Kopf. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Er sagte in einfachem Englisch:
»For your own safety! Sie werden zwar das Gelände nicht betreten, solange es nicht in unserer Hand ist. Sie bleiben schön hier oben, wo Sie geschützt sind, und warten, bis wir Ihnen grünes Licht geben. Aber man kann nie wissen. Es wird ganz schön hoch hergehen, Schwester. Und mir ist der Gedanke lieber, dass Sie sich verteidigen können, selbst wenn Sie fünfhundert Meter vom Geschehen entfernt sind. Wie gesagt, wir geben Ihnen ein Zeichen, wenn der Weg frei ist!«
Judith hätte ihm gern erklärt, dass sie ebenso wenig eine Nonne war wie er Mönch. Doch es war eindeutig weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt. Der Hauptmann wusste, dass sie vom Vatikan entsandt worden war, und so mit war sie für ihn automatisch eine Nonne. Er zeigte ihr, wie man die Waffe entsicherte, lud und abfeuerte. Sie begann zu zittern. Als er sah, dass sie nicht in der Lage war, die Pistole richtig in die Hand zu nehmen, schob er sie in den Halfter ihres Gürtels, ohne sie groß zu fragen. Dann sagte er:
»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben Erfahrung mit solchen Operationen.«
Act of God, ging es ihr durch den Sinn.
Nicht weit von ihr wurden die Waffen für den Angriff von einem Militärlastwagen geladen. Judith lief ein Schauer über den Rücken. Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Der Hauptmann erteilte inzwischen den Soldaten Befehle. Kleine Trupps schwärmten aus, Feldstecher in der Hand, und nahmen ihre Positionen ein, auf dem Nachbarfelsen oberhalb des kleinen Palmenhains oder auf dem Hügelkamm, von wo aus ihr Einsatzort sichtbar war. Der Rest der Truppe ging noch einmal die verschiedenen Etappen der Erstürmung durch. Judith saß unverändert bleich und schwindelig da, als der Hauptmann erneut zu ihr trat und sie aufforderte, alles, was sie dabeihatte, in den schlichten Pappkarton zu legen, den er ihr hinhielt.
Sie nahm ihr Silberkreuz ab, legte ihre Brieftasche in die Schachtel und suchte mühsam unter ihrer Weste nach dem Mobiltelefon in ihrer Jackentasche. Dabei rutschte ihr der Helm leicht ins Gesicht. Plötzlich klingelte es. Judith spürte, wie ihr Herz einen Satz machte. Nach einem Blick auf die Nummer gab sie dem Hauptmann ein Zeichen.
Sie drückte auf den Knopf und meldete sich mit tonloser Stimme: »Judith Guillemarche.« Im Herzen dachte sie: ›Ja, ich heiße Judith Guillemarche und, Herr im Himmel, hier habe ich wahrlich nichts verloren!‹ Dann hörte sie aus weiter, weiter Ferne die Stimme von Kardinal Lorenzo, dem Direktor der Vatikanischen Sammlungen.
»Wo sind Sie? Ist alles in Ordnung?«
Im Tal schien sich plötzlich eine Totenstille auszubreiten. Judith nahm nur noch den glühenden Wind auf ihrer Wange wahr. Ihre Lippen waren ausgetrocknet. Die Welt hielt den Atem an. Dann gab der Hauptmann das Signal zum Abmarsch. Die vierzig Soldaten setzten sich wie ein Mann in Bewegung und stiegen unter gegenseitigen Ermunterungen in ihre Fahrzeuge. Die Motoren dröhnten, Staubwolken wirbelten in die Höhe.
Zwei Soldaten packten Judith an den Armen und drängten sie, sich ebenfalls in Gang zu setzen. Die Landschaft tanzte vor ihren Augen, während sie ausrief:
»Nein, nichts ist in Ordnung! Hier ist gar nichts in Ordnung!«
Der Hauptmann entriss ihr das Telefon.
Oh mein Gott, mein Gott, das kann doch nicht wahr sein!, dachte sie.
Ihre Augen öffneten sich weit vor Entsetzen.
Es war zu spät. Es gab kein Zurück.
♦♦♦
Die Alchemisten waren im Großen Saal versammelt. Sie umstanden das Bett wie eine Krippe. Die Professoren Li-Wonk, Sparsons und Ferreri waren die Heiligen Drei Könige. Das Gewölbe dieser großen Höhle, die erste Gebärmutter der Welt, schien von alten Geschichten und Bildern widerzuhallen.
Im Schoße des Berges Sinai lag die Leihmutter. Ganz in ihrer Nähe in ihrem luftdichten, durchsichtigen Kasten die Schicksalslanze. Der
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