Die Lanze des Herrn
wir, wenn wir keinen Beweis haben, weiter suchen werden. Er weiß, dass diese Drohung jederzeit und überall auf uns lastet. Ohne dass wir wissen, ob es sich dabei um ein Hirngespinst oder um eine reale Bedrohung handelt. Er spielt mit unserer Ungewissheit. Wir sitzen in der Falle. Wir sind alle bereits losgerannt. Ich mit eingeschlossen. Die DNA Jesu, die Eroberung Jerusalems, Qumran und die Essener, die Lanze…«
Der Papst brach erneut in ein bitteres Lachen aus, das der Kardinal nicht an ihm kannte.
»Ja, wir sind ihm voll und ganz auf den Leim gegangen! Und er kann uns weiter auf Trab halten, uns und den Rest der Welt. Wir müssen die Zeche bezahlen. Er nutzt unseren Glauben aus. Unsere Besorgnis. Doch wenn wir uns von seinen Spielchen beirren ließen – was für ein Armutszeugnis wäre das für unseren Glauben!«
Der Gesichtsausdruck des Papstes verfinsterte sich.
Dem Kardinal wurde jäh bewusst, wie ungeheuerlich ihre Lage war. Er empfand eine tiefe Scham, die ihm das Blut ins Gesicht trieb. Zugleich packte ihn die kalte Wut, dass man sich so sehr über ihn lustig machte. Sein Stolz war zutiefst verletzt. Dies war mehr als eine Beleidigung. Er fühlte sich schuldig und war unsäglich wütend. Verzweifelt versuchte er, seine Selbstbeherrschung wiederzufinden. Schließlich fragte er mit trockener Kehle:
»Soll das heißen, dass wir Axus Mundi nicht ernst nehmen sollen? Dass ihre Drohungen nichts sind als Spinnerei? Glaubt vielleicht nicht einmal dieser Heinrich an das Gelingen seines Vorhabens?«
»Doch, er glaubt durchaus daran, aber er bereitet sich auch darauf vor, dass sein Experiment fehlschlagen kann. Die Wissenschaftler sind wahrscheinlich von dem bevorstehenden Erfolg überzeugt. Aber er ist bereit, seine Leute zu opfern, wenn es sein muss. Er ist nicht so verrückt, alles auf eine Karte zu setzen und sich ganz auf das Experiment zu verlassen. Er sieht zu, dass sein Rücken gedeckt ist. Es genügt ihm schon, wenn er uns jederzeit seinen Willen aufzwingen kann. Er will uns in Atem halten. Es genügt, dass wir an die Sache glauben und jeden Morgen aufstehen mit der Furcht, dass es geschehen könnte. Selbst wenn das Ganze nur ein Hirngespinst ist oder wenn sie nicht ans Ziel gelangen. Ein Gerücht, und schon kommen wir angerannt. Der Mann manipuliert uns.«
»Dann müssen wir ihn mit Verachtung strafen. Glauben wir also nicht daran! Aber was ist mit dem Einsatz am Sinai? Müssen wir unsere Strategie ändern? Noch ist Zeit dazu«, sagte der Kardinal und schob den Ärmel seiner Soutane hoch, um auf die Uhr zu sehen. »Mein Gott, drei Regierungen sind in die Sache verwickelt!«
Der Papst sah ihn an.
»Der Einsatz am Sinai muss abgeblasen werden, das hat größte Priorität. Ich sehe heute Vormittag die Kardinäle Acquaviva und Almedoes. Danach tun Sie mir einen Gefallen, Sie und der Geheimdienst. Diesen Ernst Heinrich…«
»Was ist mit ihm?«
»Finden Sie ihn.«
Wieder herrschte Schweigen. Schließlich erhob sich der Kardinal von seinem Sitz.
»Gewiss, Heiliger Vater. Er kann uns eine Weile an der Nase herumführen. Wie lange genau hängt jedoch allein von der Lanze ab. Wenn die Lanze wieder in unserem Besitz ist, ist die Gefahr gebannt. Wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass wir alle Proben in unseren Besitz bringen, damit sich das Ganze nicht wiederholen kann. Unser Geheimdienst wird sich darum kümmern. Wenn wir das Labor stürmen, können wir vielleicht das Schlimmste verhindern.«
Clemens XVI. wandte sich ihm zu.
»Das gestehe ich Ihnen zu, mein Freund. Schaffen Sie die Lanze herbei. Handeln Sie so schnell wie möglich und legen Sie diesen Gaunern das Handwerk. Sagen Sie Judith und unseren Verbündeten Bescheid.«
»Aber, Heiliger Vater,…«
»Ja?«
Der Kardinal hatte die Hände zusammengelegt und sah den Papst ernst an:
»Und wenn sie es doch schaffen?«
♦♦♦
Sie trat aus ihrem Zimmer wie eine Erscheinung.
Hier nannte man sie die Neue Maria.
Ihre Augen waren noch leicht vom Schlaf verquollen, sie brauchte ein paar Sekunden, um sich an das Licht zu gewöhnen. Der Anblick der Wüste beeindruckte sie jeden Morgen aufs Neue. Lächelnd reckte sie sich. Sie hatte gerade Brot mit Obst und Oliven gegessen. Sie trug eine Leinenbluse mit fein besticktem Kragen und einen blauen Rock, der ihr bis zu den Fußgelenken reichte. Um ihr Haar hatte sie locker ein Kopftuch gebunden. Sie steckte ein paar schwarze Locken hinter ihren Ohren fest und strich über das Medaillon um ihren Hals.
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