Die Lanze Gottes (German Edition)
mit Gewalt das Versteck der Heiligen Lanze zu entlocken? Janus wurde klar, dass er sein Leben verwirkt hatte, wenn er das Geheimnis preisgab. Andererseits unternahmen sie nicht einmal den Versuch, ihn durch Folter zum reden zu bringen. Das konnte nur eines bedeuten, sie hatten einen anderen Weg gefunden das Versteck der Lanze herauszufinden. Aber welchen? Und wenn dies so war, warum lebte er dann noch?
XLIII
»Ich schenke Euch Euer Leben, wenn ihr mir die Lanze bringt. Euer Bruder hat Euch doch sicherlich das Versteck verraten«, sagte Wilfried und löste ihre Fesseln. Konstanze wusste, sie musste Zeit gewinnen. Sie stand auf und blickte ihn an. Seine blonden, schulterlangen Haare, durch die sich kleine graue Strähnen zogen, hingen zerzaust herab. Fahrig strich er sich ständig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Konstanze versuchte, ihr Gegenüber zu erforschen. Was war mit diesem Mann geschehen? Woher rührte sein Hass? Asbirg hatte sie gelehrt, dass die Christen ein einfaches Bild von Gut und Böse hatten. Der Teufel war böse, Gott war gut. Ihre eigenen Götter verhielten sich anders. Manche von ihnen konnten durchaus sowohl gut als auch böse sein. Der Tod war stets ein Begleiter Konstanzes gewesen. Asbirg hatte oft gesagt: Nicht wir entscheiden über gut oder böse, gerecht oder ungerecht. Die Todesgöttin Hel belohnt und bestraft jeden Menschen nach seinem Verdienst.
Was war Wilfried für ein Mensch? Alles, was sie über ihn wusste, stammte aus Erzählungen. Konstanze wusste, es gab nur eine Möglichkeit zu überleben. Sie musste klüger sein als er. Ein jeder Mensch besaß Schwächen, Konstanze musste sie nur ausfindig machen. Furcht war in ihrer Lage ein schlechter Berater.
Sie versuchte sich auf Wilfried zu konzentrieren, beobachtete ihn und bat still die Götter um Beistand. Wie ein gehetztes Tier wanderten seine Augen hin und her, wenn er mit ihr sprach. Er wartete immer noch auf eine Antwort, doch Konstanze gab sie ihm nicht, streckte stattdessen ihren Arm aus, um Wilfried zu berühren. Er packte ihr Handgelenk. »Was soll das?«, rief er und starrte sie verwirrt an.
»Lasst meine Hand los. Ihr tut mir weh«, sagte Konstanze bestimmt, ohne seinem Blick auszuweichen.
Wilfried ließ sie los und sie strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er ließ es geschehen und Konstanze wusste, sie hatte einen kleinen Sieg errungen. Sie würde es ihm so schwer wie möglich machen, sie zu töten.
»Was tut Ihr?«, fragte er mit bebender Stimme.
»Wer hat Euch so verletzt?«, fragte sie und las die Trauer in seinen Augen. Sie trat noch näher an ihn heran, sodass sich ihre Körper fast berührten, und legte ihre Hand auf seine Wange. Er ließ es geschehen. »Niemals wird Euch jemand Vertrauen schenken können, Graf von Breyde. Auch ich werde Euch niemals vertrauen können. Das tut mir leid für Euch.«
Er schwieg und starrte sie aus großen Augen an. Konstanze spürte sein Verlangen. Sie wusste, dass sie auf viele Männer begehrenswert wirkte, doch einige fürchteten sich auch vor ihr, hielten sie für unberechenbar. Auch Wilfried gehörte zu ihnen, mit dem Unterschied, dass er seine Furcht kontrollieren konnte, dachte Konstanze. Sie trieb ein gefährliches Spiel. Wer würde siegen? Seine Traurigkeit oder sein Hass?
Für Konstanze gab es kein Zurück mehr. Sie wusste, was er wollte, und überlegte einen Moment, wie es wäre, diesen Schritt zu gehen. Es war nicht nur die Heilige Lanze, die Wilfried begehrte, nein, in diesem Augenblick begehrte er Konstanze viel mehr. Konnte sie das wirklich tun? War sie irgendjemandem auf dieser Welt etwas schuldig? Nein, sie fühlte sich nur Asbirg und ihrem Glauben an die Götter verpflichtet. Nicht ihrem Vater, nicht Janus, nicht dem Kaiser oder dem Papst. Sie war Konstanze von Esken, eine freie und stolze Frau, und fühlte sich der Tradition der alten Seherinnen und Heilerinnen verbunden.
Es schien ihr möglich, sich Wilfried freiwillig hinzugeben und das machte sie umso mächtiger. Sie spürte seine Verwirrung. Sein Verlangen danach, sie ganz zu besitzen, für einen Wimpernschlag ihre Zuneigung zu erfahren, drohte ihn zu übermannen. Sie wusste auch, dass dieser Zwiespalt Wilfried von Breyde noch mehr verwirren würde, denn bis heute kannte er nur Hass.
Konstanze streichelte mit ihrer Hand über Wilfrieds Brust. Abermals strich sie ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. Von Breyde verlor allmählich die Kontrolle.
Die Schwachen teilten das Los, alles und jeden
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