Die Launen des Teufels
Frühstück hermachten. Als der seinem Vater am ähnlichsten sehende, sechsjährige Uli mit hungrigen Augen um einen Nachschlag bat, forderte Anabel ihn mit einem Schmunzeln auf: »Geh und hol Bertram. Dann gibt es mehr.«
Flink rutschte der stämmige Knabe von der Holzbank und stob in den Innenhof davon, um keine drei Minuten später mit einem blaulippigen Bertram im Schlepptau zurückzukehren, der sich nach einem zaghaften Gruß die steifen Hände an der Feuerstelle wärmte.
»Wenn du gegessen hast, wird dir wieder warm«, versprach Gertrud und drückte dem Lehrling eine Schale in die Hand. Als alle versorgt waren, kratzte sie die Reste aus dem kleinen Kessel und ließ sich neben Anabel nieder, um ebenfalls zu frühstücken.
»Ihr beide könnt schon vorgehen«, bot sie eine halbe Stunde später mit einem Lächeln an, da sowohl Bertram als auch Anabel nervös auf ihren Sitzen hin und her rutschten. »Ich kümmere mich um die Kinder und komme dann nach.« Als Anabel etwas erwidern wollte, legte sie ihrer Stieftochter die Hand auf den Arm und versetzte nachdrücklich: »Heute ist Schützenfest auf der Bürgerwiese.« Bei dem begeisterten Aufblitzen, das sich in Bertrams Augen stahl, wurde ihr Lächeln breiter. Und wenngleich Anabel die Belustigungen des Volkes oft derb und manchmal sogar ein wenig beängstigend fand, musste auch sie schmunzeln.
Bevor sie sich versah, befand sich die junge Frau an der Seite des Knaben auf der Straße vor der Glockenhütte, wo sie sich dem Strom der Gläubigen anschlossen, der in Richtung Frauentor floss, um sich zu der vor den Mauern gelegenen Pfarrkirche über dem Felde zu begeben. Befangen und wortlos tauchten die beiden in das Gewühl der Stadt ein, überquerten den Frauengraben und näherten sich dem hoch aufragenden Glockenturm, der die Gläubigen mit einem ohrenbetäubenden Geläut zur Andacht rief. Der Regen, der sich inzwischen in eisige Graupel verwandelt hatte, ließ die Menschen schneller auf das schützende Dach zuströmen, und obschon Anabel seinen Anblick am liebsten in sich aufgesogen hätte, vermied sie Bertrams Blick während des gesamten Weges. Da jedoch die beiden Kirchenpforten den Ansturm aufhielten, entstand ein beinahe brodelnder Trichter, in dem es sich nicht vermeiden ließ, dass die mehr oder weniger herausgeputzten Kirchgänger in engen Kontakt zu ihren Vorder- oder Hintermännern gerieten. Als ein Hüne von Zimmermann sich einen Weg durch die Wartenden bahnte, stieß er Anabel zur Seite, sodass sie gegen Bertrams Brust taumelte, und wenn dieser sie nicht an der Taille gepackt hätte, wäre sie sicherlich gestrauchelt und zu Boden gegangen. Ein heißer Stich durchfuhr ihre Glieder, als sich Bertrams Hände um ihre Mitte legten, und wenngleich er sie sofort wie verbrüht wieder zurückzog, hinterließen sie zwei brennende Flecken. Erschrocken und erstaunt zugleich hob sie den Blick der blauen Augen zu ihm auf und erschauerte, als sie das Verlangen in seinen Zügen las. Ungeschliffen zeichneten sich die Gefühle ab, die er für sie empfand, und wenn sie noch gezweifelt hatte, ob er ihr gegenüber ähnliche Empfindungen hegte wie sie für ihn, löschte sein stoßweiser Atem diese Zweifel unwiderruflich aus. Wie von Zauberhand aus der Luft gewischt, trat die Gegenwart der anderen in den Hintergrund, und während Anabel sich in Bertrams dunklen Augen verlor, verblasste ihr bisheriges Leben zur Unwichtigkeit.
»Los doch, es geht weiter!«, riss sie eine tiefe, kratzige Stimme in die Realität zurück, und während die Männer und Frauen hinter ihnen schoben, drückten und stießen, schwammen sie inmitten der Menge und dennoch allein auf das einfache Schiff der romanischen Kirche zu.
Der Gottesdienst plätscherte sinnentleert und hohltönend über ihre Köpfe hinweg, während sich ihre Hände nach anfänglichem Zögern ineinander schoben und sie die Gegenwart des anderen genossen. Schüchtern schmiegte Anabel ihre Schulter an Bertrams Seite, um das gleichmäßige Heben und Senken seines Brustkorbes zu spüren. Wie wundervoll er roch, durchzuckte es sie, als sein erdiger, leicht salziger Duft sie in der Nase kitzelte. Und wie unglaublich stark und kraftvoll sich sein Körper unter den einfachen Gewändern anfühlte! Zu kurz erschien ihnen die Predigt, zu schnell das abschließende Gebet, mit dem der Priester die Gottesfürchtigen in die Freiheit entließ, um den im Anschluss an die Messe beginnenden Belustigungen nachzugehen.
»Komm«, hauchte er, als sie sich
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