Die Launen des Todes
oder Gegenstände, die von ihren entfernten Verwandten gezeugt hätten, und mir drängte sich der Eindruck auf, dass ihre wenigen angeblichen Familienerinnerungen an den Mann nichts weiter waren als nachgeplappertes Zeug, das sie von meinen, Beddoes’ Spuren folgenden Vorläufern (unter ihnen auch Sam) aufgeschnappt hatten. (Allerdings gab es einen jungen blonden Degen, der mir mit seidenen Wimpern zuzwinkerte … ach, die Dinge, die wir Biographen tun, um sich ganz in die Gefühlswelt ihres Gegenstands zu versetzen!)
Göttingen nun ist eine ziemlich kleine Stadt, die zum größten Teil noch so aussieht wie zu Beddoes’ Zeiten. Meine Hoffnungen wuchsen, doch abgesehen davon, dass ich in den Universitätsaufzeichnungen seinen Namen entdeckte, konnte ich nichts finden, was er über sein Leben dort nicht bereits in seinen Briefen erzählt hätte. In einer der »Imaginierten Szenen« lässt Sam Heine und Beddoes, die beide an der Universität studiert und ihre literarischen Interessen und radikalen politische Ansichten geteilten haben, aufeinander treffen und miteinander diskutieren, allerdings stimmen die chronologischen Daten nicht, weshalb Sam die Szene schließlich strich, denn selbst die Schwingen der Fantasie brauchen mindestens eine in der Wirklichkeit verhaftete Feder, um entschweben zu können.
Alles in allem, angesichts des schlechten Wetters, der fehlenden Fortschritte, des schweren
Deutschen
, das auf allem lastete, stumpfte ich mit jedem Tag mehr ab. Die Zeit schien dahinzukriechen, als hätte man mich auf einen unbequemen Sitz zwischen zwei dicken, streng riechenden Männern platziert, während gerade eine von Wagners langen Opern beginnt, aufgeführt von einer dilettantischen Musikgesellschaft, die von einem Schulorchester begleitet wird, und man gesagt bekommt, dass es keine Pausen geben werde.
An dieser Weggabelung dachte ich mir, wie weise es doch von Ihnen war, mein lieber Mr. Pascoe, das akademische Leben zugunsten des detektivischen getauscht zu haben. Die unfeinen Straßen, in die Ihre Arbeit Sie führt, scheinen nichts zu sein verglichen mit den düsteren Gassen, in denen ich mich verirrt hatte. Kein Wunder, dass der arme Beddoes mit seiner Todesfixierung sich dazu entschieden hatte, den größten Teil seines Erwachsenenlebens hier zu verbringen. Selbst jetzt im Zeitalter des universalen Lichts, wenn Kinder in englischen oder amerikanischen Großstädten aufwachsen können, ohne jemals einen Stern zu Gesicht zu bekommen, gibt es dort Schatten und Miasmen und schaurig-romantisches Dämmerlicht in Hülle und Fülle. Wie musste dies erst zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gewesen sein, ein Gedanke, der die Vorstellungskraft übersteigt! Beddoes suchte die Aufklärung durch die Medizin, der gesellschaftlich wohltätigsten aller Wissenschaften, sowie durch die Unterstützung radikaler egalitärer Bewegungen, beide Wege aber führten ihn nur zur selben Schlussfolgerung: dass der Mensch ein verpfuschtes Wesen sei, dessen angemessene Heimstatt die Finsternis und dessen einzige Erlösung der Tod ist.
Je länger ich dort blieb, desto mehr spürte ich, dass ich ihm zustimmen konnte!
Glücklicherweise lud mich an diesem Punkt die US -Botschaft in London, mit der ich seit dem Gespräch mit Dwight in Korrespondenz stand, zum Gespräch vor, weshalb ich mit erheblicher Erleichterung Abschied nahm!
Nicht dass sich in England etwas besserte. Das Wetter war schlecht, und die Botschaftsangestellten behandelten mich wie den Staatsfeind Nummer eins, der es darauf abgesehen hatte, die Republik zu stürzen. Das einzig Gute war, dass ich in Lindas Westminster-Apartment erneut Frère Jacques vorfand, und nachdem wir nun so gute Kumpel geworden waren, hatte keiner von uns beiden etwas dagegen, wenn ich für einige Tage auf der Couch mein Nachtlager aufschlug. Es stellte sich heraus, dass er auf seiner Promotiontour nach Norden fahren würde, und da ich, bevor ich mich in den Westen aufmachte, kurz noch im heimatlichen Mid-Yorkshire vorbeischauen wollte, bot er mir an, mich bis Sheffield in seinem Mietwagen mitzunehmen.
Es war eine interessante Reise. Ich hatte das Gefühl, für ihn habe sich etwas verändert. Vielleicht spielte dabei der Tod von Frère Dierick eine Rolle. Ich bin mir sicher, dass zwischen dem Mann und dem Mönch in Jacques immer ein fein austariertes Gleichgewicht bestanden hatte. Mit der Entfernung dieses sauertöpfischen Todesengels, der ihn immer an das zölibatäre Leben erinnert hatte,
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