Die Launen des Todes
nah dran, dich zu verlieren.«
»Okay, aber ein Blitz schlägt nicht zweimal in die gleiche Stelle ein, das macht es also noch unwahrscheinlicher, dass es wieder passiert.«
»Ich wollte, ich könnte das glauben. Ich weiß nur, wenn dir etwas zustößt, wäre es mein Ende. Von allem, meine ich. Mein Leben wäre ebenfalls vorüber. Es hätte keinen Sinn mehr weiterzumachen.«
»Nein, so was darfst du nicht sagen«, drängte er sie. »Nichts wird passieren.«
»Aber wenn doch?«
»Dann wirst du damit zurechtkommen, nehme ich an …«
»Auf keinen Fall.«
»Doch, das wirst du. Du bist stark, Rye. Stärker als ich. Du schaffst alles, wenn du es nur willst.«
»Ich will es aber nicht.«
»Du musst. Versprich es mir!«
»Was? Dass ich dir Rosen aufs Grab werfe und mich dann eiligst zum nächsten Single-Club aufmache?«
»Nein, red keinen Blödsinn. Dass du dem Leben eine Chance gibst.«
»Das klingt, als hättest du es von einem Abreißkalender.«
»Tut mir Leid, dass ich das nicht eleganter formulieren kann, aber ich glaube einfach, jeder beschäftigt sich heutzutage viel zu sehr mit dem Tod. Immer geht es nur um Sterbehospize und solche Sachen. Gut, der Tod selbst ist nicht das Problem, meine ich, und wenn, dann löst es sich schnell. Das Leben auf die Reihe zu bekommen, das ist schwierig. Das Leben ist das, was wirklich wichtig ist.«
Er verstummte. Sie berührte sein Gesicht und zeichnete in der Dunkelheit die Umrisse seiner Augen und seiner Lippen nach.
»Ist nicht der schlechteste Kalender, den du da hast«, sagte sie. »Okay. Ich verspreche es. Aber du musst es mir auch versprechen.«
»Wie?«
»Ist nur fair. Falls mir etwas zustoßen sollte, musst du mir versprechen, dass du dich auch an das hältst, was du mir eben gepredigt hast, dass du nicht Schmerz mit Verzweiflung verwechselst, dass du um mich trauerst, aber nicht für immer, dass du mich nie vergessen wirst, dass du aber auch dieses Versprechen nie vergessen wirst. Dass dir klar ist, ich werde erst Ruhe finden, wenn du wieder glücklich bist. Kannst du mir das versprechen? Falls nicht, kann ich es auch nicht.«
Er griff nach ihrer Hand.
»Ich verspreche es«, sagte er.
»Gut, dann tu ich es auch.«
Er zog sie an sich. Ihr weicher Körper, ihr Duft, ihre Wärme umhüllten ihn wie die Luft des verlorenen Garten Edens. Dennoch runzelte er in der Dunkelheit die Stirn, während er dieses seltsame Gefühl zu analysieren versuchte, dass mit ihm etwas geschehen war, was er nicht verstand.
Rye presste den Kopf gegen seine Brust, auf ihren Lippen lag ein Lächeln.
9. Brief, erhalten: Freitag, 18. Jan., per Post
The University of Santa Apollonia, CA .
Gästesuite Nr. 1
Geisteswissenschaftliche Fakultät
Mittwoch, 16. Jan.
Lieber Mr. Pascoe,
was für eine Woche! Und welch seltene Stimmung bei mir! Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich Amerika genieße. Als träte man in einen Film ein und stellte fest, dass man ein Star ist! Waren Sie schon mal hier? Ich bin mir dessen sicher – ein kultivierter, umfassend gebildeter Mensch wie Sie wird sich nicht damit zufrieden geben, die Welt nur vom Hörensagen zu kennen. Sie werden wahrscheinlich die gesamte Welt bereist, alles beobachtet, aufgenommen, abgewogen haben. Mein überschwängliches Gebaren erscheint Ihnen wahrscheinlich als kindlich, naiv, vielleicht sogar als kindisch. Aber vergessen Sie nicht, diese schöne neue Welt ist tatsächlich für mich vollkommen neu. Alles, was ich bislang darüber wusste, wurde mir durch das Kino vermittelt; kein Wunder, dass mir alles wie eine Filmkulisse erscheint!
Natürlich speiste sich mein guter Eindruck dieser hellen, sonnendurchfluteten Welt aus dem Gegensatz zu dem, was ich hinter mir gelassen habe. Frankfurt war verregnet und windig, Göttingen unter Schnee und Eis begraben. Jeder, der die düster-romantische Stimmung der Deutschen verstehen möchte, sollte dort einen Winter verbringen! Nicht dass ich irgendwelche Unannehmlichkeiten zu erleiden hatte, schließlich konnte ich mir, Linda beharrte darauf, ganz anständige Quartiere leisten. Doch ich erzielte an beiden Orten keine nennenswerten Fortschritte bei meinen Recherchen. In Frankfurt spürte ich einige Einwohner namens Degen auf, die vielleicht, vielleicht auch nicht zu den Nachfahren des jungen Konrad gehören, dem Bäckergesellen, mit dem Beddoes zusammenlebte, mit dem er reiste und den er in einen Shakespeare-Schauspieler verwandeln wollte. Sie besaßen keinerlei Papiere
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