Die Laute (German Edition)
waren.
Aber der Preis für den Preis ist dieser öffentliche Schaukampf, ist ein interessiert-mitleidiges Publikum, das Tränen anstatt Blut sehen will, sind fünf dressierte Männer, die für ihren zukünftigen Ruhm zu jeder Prostitution bereit sind. Aber noch ist der Preis ja nicht gewonnen, vier werden verlieren, werden sich vergeblich prostituiert haben. Rafał Singer muss das nicht weiter beunruhigen. Sein entzückendes Aussehen ist wie geschaffen für CD -Cover und Veranstaltungsplakate. Und als Bonus noch diese überaus eingängige und mitreißende Musik!
Als die Rotorgeräusche einsetzen, verlassen die ersten Zuhörer den Saal. Einer der Juroren lächelt flüchtig, als habe er auf diese Stelle bereits gewartet. Mein Mentor? Es ist der Musikprofessor aus Darmstadt. Ein alter Freund Adams. Verteidiger der Avantgarde eines vergangenen Jahrhunderts. Und schon schäme ich mich für meine Musik.
Würde ich sie mir selbst anhören wollen, wenn ich hören könnte? Eine reine Kopfgeburt, eine intellektuelle Provokation, ohne jede Rücksicht auf das Ohr, auf das, was uns Freude am Hören von Musik bereitet, von jemandem ausgedacht, der diese Freude selbst nicht mehr empfindet und offenbar niemand anderem mehr gönnt, eine akustische Zumutung, eine Kakophonie, die nur noch Kopfschmerzen bereitet und den Zuhörer wünschen lässt, ebenfalls taub zu sein.
Das Mikrofon ist angestellt, der Raumklang fließt direkt in meine ›Komposition‹ ein, eine Rückkoppelung, eine Schmutzspur, ein Fiepen, Winseln, Kreischen, das Trommelfelle zum Platzen bringt, ja ich will euch herauspeitschen aus eurer Verstuhltheit, eurem Ganz-Ohr-Sein, hineintreiben ins Geblake einer brennenden Landschaft aus Sirenen, Rauch, komatöser Hitze, Brandwunden, Ersticken, Tod. Merkt ihr denn nicht: Ihr seid Teil der Musik, ihr hört, was ihr seid!
Die Jury zieht sich zurück. Das Publikum, das bis zum Ende meiner Ouvertüre ausgeharrt hat, stählt sich nun im Foyer an Prosecco und Lachsbrötchen. Ich bleibe im leeren Saal sitzen. Wage nicht, das geliehene Sakko auszuziehen. Das weiße Hemd darunter ist nassgeschwitzt. Halte meinen Laptop auf den Knien, mein großes virtuelles Lärmorchester. Hat mein Auge nicht längst die inneren Klänge korrumpiert? Wer weiß denn, ob das, was die Zuhörer gerade über sich ergehen lassen mussten, überhaupt noch jenen Melodien nahe kommt, die mein Hirn seit fünfzehn Jahren halluziniert?
Die Jury lässt sich Zeit. Offenbar gibt es Uneinigkeit unter den Juroren. Das Restpublikum schrumpft unaufhaltsam zu einem harten Kernrestpublikum, Männer unter dreißig und über fünfzig, Hardcoreavantgardisten, größtenteils wohl selbst Musikschaffende. Und die Mütter natürlich.
Endlich scheint die Jury sich zu einer Entscheidung durchgerungen zu haben. Inzwischen ist es fast Mitternacht. Die vorderste und die hinterste Stuhlreihe füllen sich mit den Ausgeharrten, der Sprecher der Jury tritt vor, es ist der Professor aus Darmstadt, er lächelt den standhaften Müttern zu und verkündet schlicht und ohne jedes Pathos, die herausragenden Talente im diesjährigen Wettbewerb hätten es der Jury nicht leicht gemacht, einen Besten auszuwählen, aber da nun mal nur einer habe gewinnen können, habe die Jury eine Wahl treffen müssen und auch getroffen. – Ich schließe die Augen und erspare mir damit die Verkündung der Niederlage. Ich stehe auf und verlasse, noch während der Jurysprecher die Juryentscheidung begründet, den Saal. Auf den Gesichtern des Kernrestpublikums lese ich unverhohlene Missbilligung über meinen rüden Aufbruch. Schlechter Verlierer!, steht in ihnen geschrieben. Und sie haben recht. Ich bin ein schlechter Verlierer. War es schon früher auf dem Fußballfeld. Doch besänftigt meine grobe Unhöflichkeit in keiner Weise meine Wut und Scham.
Straßen denken nicht, ihre niedrigen Stirnen verbergen keine geheimen Ideen. Die Dächer ruhen taub und regungslos auf den Außenmauern. Die Alleebäume bewegen sich nicht, werden allenfalls bewegt vom genauso hoffnungs- und gefühllosen Wind
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Aber wir Menschen neigen dazu, die reglose Natur um uns herum zu beleben, ihr Gefühle oder sogar einen Willen zuzusprechen, nicht einmal nur in exzentrischen Augenblicken höchsten Glücks oder tiefster Verzweiflung. Es tröstet uns, wenn wir unsere unmittelbare Umwelt unserem Schicksal gegenüber nicht für vollkommen gleichgültig halten müssen
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Aufgescheuchte Tauben fliehen im allerletzten Augenblick aus meiner
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