Die Laute (German Edition)
Klassenkameraden hinter ihm.
Von den Mitschülern Faisals rührt sich niemand von der Stelle. Asis geht in die Hocke und klaubt einen faustgroßen Stein auf. Er spürt ihn wie einen Brocken glühender Lava in seiner Hand brennen. Seine Klassenkameraden folgen ihm, ohne dass er ihnen ein Zeichen hätte geben müssen, und bewaffnen sich ebenfalls mit Steinen.
Faisal und Abdullah stehen ihnen immer noch alleine gegenüber. Faisal nimmt Abdullah das Messer aus der Hand und steckt es in seinen Gürtel. Asis und seine Gefährten öffnen eine Gasse zum Schultor, um den beiden einen Ausweg freizugeben.
Der Rückzug findet unter vollkommenem Schweigen statt. Die Mitschüler Faisals stehen verlegen da. Asis holt ein Blatt Papier aus der Schultasche. Er könnte die Hörenden auch direkt ansprechen, und vermutlich würden die anderen ihn auch verstehen. Aber es ist nicht allein die Scham, seine Stimme könnte womöglich schrill oder unverständlich klingen. Es ist eine weitere Entscheidung, die er getroffen hat.
Er schreibt: »Fußballturnier in zwei Wochen. Unsere Schulmannschaft gegen eure. In Ordnung?«
Er reicht den Zettel einem der verlegenen Jungen aus der Nachbarschule. Er liest Asis’ Notiz, dann blickt er auf und nickt zustimmend.
30
Akram Salah Aiub schreibt Amirs Namen an die Tafel. Amir steht von seiner Bank auf. Dann schreibt der Lehrer Asis’ Namen an die Tafel. Gleichmütig folgt Asis dem Beispiel seines Banknachbarn.
Lächelnd wendet sich Akram an Asis. »This is your name«, schreibt er hinter Asis’ Namen. Dann gebärdet er diesen englischen Satz, den Asis mühelos versteht, denn in seiner alten Schule hatte er bereits drei Jahre Englischunterricht. Aber nun lernt er die Gebärde für
Name
und
dein
.
Dann weist Akram auf seinen Namen und schreibt dahinter: »This is my name«, weist auf den Namen und dann auf sich. Und schließlich schreibt er: »This is his name.« Damit meint er Amir. – Bis zum Mittag hat Asis die Gebärden für Stuhl, Tisch, Klassenzimmer, Tafel, Lehrer, Schüler und zwei Dutzend weiterer Substantive und die Personal- und Possessivpronomen gelernt.
Er lernt nur langsam, so langsam wie seine Klassenkameraden die englischen Vokabeln. Aber er lernt. Diese ganze neue Sprachwelt ist noch tiefschichtiger, als er erwartet hat. Nicht nur die Nutzung des Raums ist wesentlich für den Gebrauch der Gebärdensprache, sondern auch die Zeit. Es gibt nur eine einzige Geste für
sitzen
und
Stuhl
, aber feine Unterschiede in der Ausführung geben der Geste einen eindeutigen Sinn. Die Gebärdensprache ist keine Aneinanderreihung streng festgelegter Muster, sondern vielmehr ein unentwegter lebendiger Fluss mit Pausen, trägen Passagen und reißender Strömung, fast so, wie er es aus der Musik kennt, oder eher noch, da es sich um eine vierdimensionale Sprache handelt, wie im Tanz.
Ihm schwindelt. Ist das nicht Irrsinn? Vier Dimensionen, Raum und Zeit, und all dieser Dimensionen kann sich der Sprecher bedienen und sich darin ausdrücken. Wie arm ist das Schreiben, eindimensional, eine nackte Linie, das Bild, zweidimensional und flach, und selbst das Erzählen! Die Gebärdensprache ist eher wie ein Film. Sie springt von der Normaleinstellung zur Nahaufnahme, von dort zur Totalen und dann wieder zum Standardobjektiv. Sie arbeitet mir Vor- und Rückblenden, harten Schnitten und langsamen Kamerafahrten. Und der gehörlose Zuschauer versteht diese ganze Filmgrammatik, denn er ist ja selbst ein Regisseur.
Man müsste Gedichte schreiben können in dieser Vierdimensionalität. Sie wären tiefer und reicher als jene in der gesprochene Sprache, fast lautlos zwar, aber voller Raum zum Atmen, Ausgreifen, Tanzen.
In der Pause spricht niemand über den bemerkenswerten Showdown am Vortag. Aber alle reden über das bevorstehende Turnier. Bisher hat sich keiner von Asis’ Klassenkameraden besonders für Fußball interessiert. Nicht, dass sie unsportlich wären. Aber in der Regel waren oder fühlten sich die meisten von den Mannschaftsspielen der Hörenden ausgeschlossen. Und sind sie mit anderen Gehörlosen zusammen, haben sie meist wichtigeres zu tun als Fußball zu spielen. Also muss Asis nun in kürzester Zeit ein Team zusammenstellen und trainieren, obwohl es ihm bei der Herausforderung an die Nachbarschule zunächst nicht ums Gewinnen ging. Doch hat er lang genug von einer Zukunft als Profifußballer geträumt, um den Gegnern nicht kampflos den Sieg zu überlassen.
Jassir mit den eingegipsten Händen
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