Die Laute (German Edition)
nimmt die Post aus dem rostigen Kasten, knallt die Klappe zu und schlappt die Treppe hinauf, schwerfällig wie eine müde, übergewichtige Witwe.
Eigentlich wollte ich mich vor der Nachtschicht noch einmal kurz hinlegen, da ich in der vergangenen Nacht schon nicht geschlafen habe und Cześka mich auch noch um die verdiente Mittagsruhe gebracht hat, als die Lichtklingel aufleuchtet und signalisiert, dass ein unerwarteter Besucher vor der Tür steht. Natürlich könnte ich das Lichtzeichen einfach ignorieren, da es außer Cześka niemanden gibt, der mich zu Hause besucht, und Cześka war bereits da. Wie damals bei der unseligen Pandora ist es auch diesmal wieder die reine Neugier, die dem Unglück Tür und Tor öffnet. Weiß der Teufel, wie er meine Adresse herausgefunden hat. Wahrscheinlich reichte einmal mehr ein kurzer Anruf bei einem alten Freund der Familie, und die gesuchte Information erschien sekundenschnell auf seinem Display.
Er würde mich gerne zum Essen einladen, schreibt er auf ein leeres Kalenderblatt. Meine Arbeit am Flughafen beginne um Mitternacht, kritzle ich darunter. »Schön, dann bleiben uns ja noch vier Stunden«, schreibt er ehrlich erfreut. – Ich bitte ihn nicht herein, während ich mir meine braunen Arbeitsklamotten aus steifem Drillich und die schwarzen Sicherheitsschuhe mit den Stahlkappen überstreife.
In dem Augenblick, als wir den geschmackvollen Laden betreten, weiß ich, dass es ein Fehler war, seine Einladung anzunehmen. Er schätzt gutes Essen, wie er gute Musik und gute Bücher mag. Ich habe neben seiner Mutter gesessen. Zweifellos ist er in einem großbürgerlichen Haushalt aufgewachsen, weiß, welchen Wein man zu Fisch und welchen man zu Lamm trinkt, hat schon in dem Alter Mozart gespielt, als Mozart zu komponieren begann, und konnte bereits, bevor er Lesen lernte, über jene Bibliothek verfügen, die ich erst im Haus von Ali entdeckte, zehn Jahre zu spät.
Seine Mutter hat ihm Mark Twain und Lewis Carroll vorgelesen, meine konnte nicht einmal die Schlagzeilen der Tageszeitungen entziffern. Jeden Samstag geht er in die Oper oder die Philharmonie und hat sicher schon ein Dutzend verschiedener Interpretationen von Beethovens letzten Streichquartetten gehört. Erst als Adam mir die Noten der Großen Fuge zum Studium gab, habe ich das ganze Ausmaß dessen begriffen, was mir verloren gegangen ist.
Und nun dieses Restaurant, kein Nobelschuppen, aber eine gute Küche und eine angenehme, fast bescheidene Atmosphäre. Niemals würde Rafał mich absichtlich in Verlegenheit bringen. Aber genau das ist es, was mich zutiefst beschämt, seine Selbstsicherheit, seine Weltgewandtheit, sein Einfühlungsvermögen, seine Fähigkeit, immer und überall den richtigen Ton zu treffen, seine Bescheidenheit, mit der er seine Großzügigkeit mir gegenüber annehmbar erscheinen lassen will. Trotzdem schäme ich mich, weil ich mich niemals werde revanchieren können.
Schäme mich meiner Armut, meiner Unbeholfenheit, meiner Taubheit, meiner Eifersucht und meiner Scham. Er weiß von meiner Scham, deswegen ist sein Blick verhüllt wie bei einem Ethnologen im Dorf eines ›Naturvolkes‹ oder einem uniformierten Polizisten am Nacktbadestrand: Das Sehfeld ist eingeschränkt, der Blick unfokussiert, desinteressiert, entsinnlicht. Er sieht, ohne hinzuschauen.
Aber dieser schonende, verhüllende, meine Nacktheit beharrlich ignorierende Blick lässt mich erst recht nackt erscheinen. Meine Nacktheit bedeutet ja nicht nur Sinnlichkeit, sie bedeutet vor allem Verletzlichkeit.
Und ich bin wieder das Kind, das von seinem eigenen Liebesunwert, seinem Parasitentum, seiner Unreinheit, seiner Verdorbenheit überzeugt ist. So wie ich meinen armen Eltern zur Last gefallen bin, schmarotze ich nun von der Liebenswürdigkeit meines Gastgebers. Meine Eltern fanden immerhin Ausgleich in ihrer Elternschaft und ihrem Glauben, dass es so gottgefällig sei und sie den Lohn für ihre Mühen schon noch erhalten würden.
Irgendwann kommt die Rechnung, ich weiß es. Es gibt keine Großzügigkeit ohne die Erwartung einer Gegenleistung. Ich möchte nur noch fort, mich am liebsten in Luft auflösen oder im Boden versinken, denn auch die Flucht ist beschämend, ich bin von Scham umstellt, die mich von allen Seiten anstarrt und mit dem Finger auf mich zeigt. Der einzige Ausweg ist, mich in mir selbst zu verbergen und mich tauber zu stellen, als ich bin.
Für Rafał muss es ein anstrengendes Abendessen sein. Das Notizbuch neben sich,
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