Die Laute (German Edition)
versucht er, mit diesem unwirschen Tischgenossen in ein Gespräch zu kommen. »Erzähl mir etwas von Zuhause,« schreibt er.
»Von Nowa Huta?«, schreibe ich, doch weiß natürlich, was er gemeint hat.
»Von deiner Kindheit im Jemen, deinen Eltern, Geschwistern, Freunden …« schreibt er.
»Was willst du wissen?«
»Was für ein Mensch ist dein Vater? Er lebt doch noch, oder?«
»Nein, er ist tot. – Ich weiß nicht, was für ein Mensch er war. Ich habe ihn kaum gekannt.«
Rafałs Gesichtsausdruck bleibt unbewegt. Nach einem kurzen Augenblick des Nachdenkens schreibt er: »Ja, den eigenen Vater kennt man von allen Menschen am wenigsten.«
Wahrscheinlich erwartet er nun, dass ich ihn nach seinem Vater frage. Aber diesen Gefallen tue ich ihm nicht.
Wir stochern eine Weile in unserem Essen herum, ohne einander anzublicken. Es ist schwierig, sich richtig über Rafał zu ärgern. Mit dem Neid ist es anders, er wächst wie ein Tumor, am Anfang noch schmerzlos und unentdeckt, und wenn man ihn endlich als solchen diagnostiziert, hat er seine Metastasen schon über die ganze Seele gestreut.
»Verdammt noch mal! Wenn du nur endlich begreifen würdest, wie attraktiv du bist!«, schreibt er auf eine neue Seite, die Buchstaben nicht ganz so gerade und souverän wie die vorangegangenen. – Ich erröte. Nun ist es wirklich langsam an der Zeit, mich zu verabschieden.
»Und wieso glaubst du, ich wüsste es nicht?«, schreibe ich unter seinen Fluch.
»Du hättest keinen Grund mehr, so verbittert zu sein!«
»Du hast recht. Man sollte überhaupt keine Gefühle haben, wenn man gesellschaftlich erfolgreich sein will.«
»Zumindest sollte man sie nicht derart demonstrativ vor sich hertragen. Und was verstehst du überhaupt unter ›gesellschaftlich erfolgreich’?«
»Nie in die Lage zu kommen, bedauert zu werden.«
»Bedauert zu werden? Ja, das ist in der Tat das schlimmste. Aber glaub nicht, mit Gefühllosigkeit käme man weiter!«
Natürlich will er mich zum Flughafen fahren. Aber ich verabschiede mich noch vor dem Restaurant von ihm. Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle staune ich einmal mehr über die lange Dämmerung hier. Und wie sie das Stadtbild verändert, die harten Kontraste aufweicht, die soliden Fundamente der Sozialbauten zerfließen lässt, Schatten und Halbschatten, die tagsüber in den Hofeinfahrten verborgen liegen, kriechen nun aus ihren Verstecken und nehmen nach und nach den ganzen Stadtteil in Besitz wie Untote aus einem Horrorfilm.
Er stellt sich mir einfach in den Weg, ein unauffälliger Mann im Anzug, um die fünfzig, graues Haar, abgekaute Fingernägel, ungeputzte Schuhe, murmelt etwas, das ich nicht verstehe, starrt auf mein rechtes Ohr anstatt in meine Augen oder auf meinen Mund, und geht dann weiter. Meine Brust ist eng, einen Moment lang glaube ich, meine Lunge sei in Beton gegossen, unfähig, weder ein- noch auszuatmen, meine Fäuste sind geballt, eine wahnsinnige Wut blitzt auf, mich zu dem Mann, der nun schon an mir vorbeigegangen ist, einzuholen, ihn bei den Schultern zu packen und ihm die Nase zu zertrümmern oder ihn aufs Pflaster zu werfen und auf sein feingeschnittenes Gesicht einzutreten.
Ich habe ihn nicht gehört, wer weiß, ob er überhaupt etwas gesagt hat. Vielleicht ist er nur ein armer geisteskranker Künstler auf dem Weg zur Arbeit. Nein, das wohl nicht. Hier sind die Künstler organisiert. Und wenn sie sich keiner Organisation zugehörig fühlen, gründen sie eine neue, eigene. Niemand von ihnen scheint außer seiner Kunst einem anderen Broterwerb nachzugehen. Während ich für UPS Pakete schleppe, lassen sie sich in den unzähligen Kneipen der Stadt von ihren erfolgreicheren oder großzügigeren Vereinskollegen aushalten. – Wie lieb mir doch meine Packerkollegen in der zugigen Verteilerhalle sind! Kein einziger Künstler ist unter ihnen.
Die Straßenbahn ruckelt nervös wie ein Raucher, der sich gerade erst das Rauchen abgewöhnt hat und nun nicht weiß, wohin mit den Händen. Die beständigen Erschütterungen bringen meine inneren Melodien zum Verstummen. Manchmal lese ich im Bus oder in der Straßenbahn, Gombrowicz, Milosz, Herbert, alles, was mir hilft, diesen Ort zu verstehen. Das meiste lese ich auf Englisch, weil mir für das Polnische der Klang fehlt. Ich ahne ihn zwar, trotz der vielen Konsonanten scheint mir die Sprache weich wie ein Schmelzkäse. Aber beim Klang jeder Sprache kommt es ja auch immer darauf an, wer sie gerade spricht.
Oft sind die
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