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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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hat.
    Marsyas würde sie gerne bei Licht sehen, sich überzeugen, dass es wirklich immer dieselbe Nymphe ist. Er hat diesen Wunsch nie ausgesprochen, nur gedacht. Und trotzdem sagt sie: »Lass es im Dunkeln, Marsyas!«
    Vielleicht ist es dieselbe Nymphe, die im letzten Bild Apollon in den Arm fällt, wenn auch vergeblich.
    Ich weiß nicht, wie sie es schafft, in ihrer kleinen Wohnung diese Marathonmärsche auf hohen Absätzen zurückzulegen. Ihre Wohnung ist doch nicht größer als meine, und wenn ich mir die üblichen Möbel darin vorstelle, bleibt nicht mehr viel Raum für ihren alltäglichen Parcours. Aber jeder ihrer energischen Schritte auf dem ungedämpften Betonfußboden ist wie ein Nagel in meine Stirn.
    An dem Nachmittag, als ich zwei Paar Filzpantoffeln aus dem Müllcontainer im Hof gefischt habe, sind wir uns im Hausflur begegnet, und sie hat mich angelächelt. Das erste Mal, seit sie hier wohnen. Ich spüre ihre Schritte schon auf den letzten Metern vor dem Wohnblock, dann natürlich im lauthallenden Treppenhaus, die drei Stockwerke hinauf, siebenundachtzig Stufen, mit geradem Rücken und einem harten, energischen Auftreten, als gelte es mit jedem Tritt ein besonders ekelerregendes Insekt zu zertreten.
    Manche würden Elena Towarzystwa vielleicht für eine schöne Frau halten. Ich kann das nicht beurteilen. Mir fehlt der Blick für das, was man in Polen für schön hält. Sie arbeitet in einem Damensalon in der aleja Solidarności und passt in keiner Weise zum blassen Stubenhocker Bogdan. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie und vor allem warum sie es auf so engem Raum miteinander aushalten.
    Als sie hier einzogen, hatten sie wenigstens noch hin und wieder Sex miteinander, so interpretiere ich zumindest die gelegentlichen Erschütterungen, die mich in den arbeitsfreien Nächten – und nur in den Nächten – um meinen Schlaf gebracht haben. Paare, die es nur nachts miteinander treiben, haben schon immer mein Misstrauen erregt. Aber das gehört nun ohnehin schon lange der Vergangenheit an. Auch Bogdan hat einen festen Tritt, obwohl ein Schlurfen besser zu ihm passen würde, aber Bogdans breitfüßiges Aufpatschen ist weniger schmerzhaft als Elenas nagelspitzer Fersengang.
    Für Hörende mag es verrückt klingen, aber es ist so: Erst seit ich taub bin, bin ich geräuschempfindlich. Als Kind hat mir Lärm, in welcher Form auch immer, nichts ausgemacht. Andernfalls hätte ich eine Kindheit in Ibb auch kaum überlebt, ist doch selbst die Nacht dort lärmerfüllt, und das nicht nur von den lautsprecherverstärkten Weckrufen der tausend Muezzine.
    Die Nacht ist die Lärmzeit der Tiere, der Katzen, die wie verhungernde Kinder greinen, der Hunde, die ihre wütenden Bell- und Heulkriege führen, der misshandelten Esel, die keinen Schlaf finden, weil ihnen die Schinderei des Tages noch in den mageren Knochen steckt, der dreisten Ratten, die mit ihren scharfen Zähnen die Mülltüten aufschlitzen und ein hochtönendes Konzert von fiependem, sich aneinander reibendem Plastik erzeugen, und der unruhig schlafenden Vögel, die immer wieder von einem Wächter oder einem albträumenden Gefährten erschreckt schwarmweise aufflattern, ein Geräusch wie im dunklen Buschwerk lauernde Dschinne, die sich auf einen wehrlosen Nachtwanderer stürzen und ihn dort, im knisternden Dornbusch, bei lebendigem Leib zerreißen oder schlimmeres.
    Die Tagesgeräusche aufzuzählen, würde eine ganze Bibliothek füllen. Und die Liste würde immer noch lückenhaft sein, denn ihre Vielfalt gehörte so selbstverständlich zum Kindheitsalltag, dass sie so wenig wahrgenommen wurde wie das Rauschen des Blutes in den Adern oder die Absonderung von Verdauungssäften. Und so, wie uns erst die Krankheit auf die Gegenwart unseres Körpers aufmerksam macht, ist es meine Gehörlosigkeit, die mich für die ständige Präsenz von Rhythmen und Klängen empfindlich hat werden lassen.
    Plötzlich zucke ich zusammen bei den Schritten meiner Nachbarn, obwohl ich nur ein entferntes tiefes Echo des tatsächlichen Geräuschs, die Erschütterungen oder Vibrationen wahrnehme, die von den festen, gleichwohl leitenden Resonanzkörpern wie Betonwände oder Heizungsrohre auf meine Knochen übertragen werden. Und wenn die Bässe von Kneipen- oder Barmusik zu mir dringen, das Gestampfe der Tanzenden oder auch nur das Schaben der Barhocker auf den gefliesten Böden, möchte ich manchmal losschreien, mir einen Barhocker schnappen und die Lautsprecherboxen

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