Die Lautenspielerin - Roman
Gehen.
»Nein, warte!« Gerwin zog seinen Freund am Ärmel. »Ich finde, es ist an der Zeit, dass du mir mehr über deine Brüder erzählst. Damit hängt doch alles zusammen, oder etwa nicht?«
Jedes Mal, wenn Gerwin seinen Meister gedrängt hatte, endlich das Geheimnis seiner Vergangenheit zu lüften, hatte Hippolyt sich geschickt aus der Affäre gezogen.
Hippolyt nickte. »Komm schon. Ich erzähl’s dir, während wir reiten.«
In gespielter Verzweiflung hob Gerwin die Arme. Was konnte er anderes tun, als zu hoffen, dass Hippolyt endlich mehr preisgab.
»Irgendwer hat mir erzählt, er habe Franz gesehen«, bemerkte Hippolyt und schwang sich in den Sattel, ohne sein angeschlagenes Bein zu belasten.
Sofort verfinsterte sich Gerwins Miene. »Möge der Hurensohn in der Hölle verrotten! Mir tut es jetzt noch leid, dass ich ihm in La Rochelle geholfen habe.« Nach seiner Genesung war der Froehnersohn von Hinrik Huntpiss dem Lagervorsteher vorgeführt worden. Da es nie genügend Söldner gab, war die Bestrafung milde ausgefallen. Wahrscheinlich hatte Franz sich über die paar Peitschenhiebe ins Fäustchen gelacht. Dann war er während eines Scharmützels verschwunden. Niemand vermochte zu sagen, ob er tot oder flüchtig war.
»Es war richtig, was du getan hast, und du solltest nicht solche hasserfüllten Reden führen. Quemcumque miserum videris, hominem scias . 25 « Hippolyt lenkte seinen Braunen unter einem tiefhängenden Ast hindurch.
»Du hast gut reden, Hippolyt. Er hat Jeannes Leben zerstört!
Sie kann einfach nicht vergessen, und wer könnte ihr das verdenken!«, entgegnete Gerwin und drängte seine Stute an Hippolyts Seite.
»Aber hilft es ihr, wenn du Franz umbringst? Du bist nicht der Mensch, einen kaltblütigen Mord auf dein Gewissen zu laden.«
Das Schweigen seines jungen Freundes als Zustimmung deutend, fuhr Hippolyt in seiner Rede fort: »Du hast nach unserer Bruderschaft gefragt.«
Sie ritten durch hügeliges Gelände. Ein leichter Nieselregen ging herab, welcher die satten grünen Wiesen und mit Weinreben bepflanzten Hänge verschleierte. Sie hielten auf den kleinen Ort Arnay-le-Duc zu. Gerwin hörte Hinrik Huntpiss Befehle brüllen. Die Hauptleute hatten ihre Mühe mit den entkräfteten Soldaten, die von Sold schon lange nur noch träumten.
Während die Geräusche der Pferdehufe vom weichen Boden gedämpft wurden, begann Hippolyt zu erzählen. »Als unschuldiger Junge von fünf Jahren kam ich nach Metten zu den Benediktinern und verließ das Kloster mit gebrandmarkter Seele. Ich habe dir bereits von den nächtlichen Entführungen aus unserem Schlafsaal erzählt.«
»Ich kann mir vorstellen, was euch widerfahren ist.«
Der Medicus warf Gerwin einen fast mitleidigen Blick zu. »Nein, das kannst du nicht. Du warst nicht dabei. Es gab ein Badehaus, in das man uns Jungen brachte, und unter diesem Badehaus befand sich ein Gewölbe, das Teil einer uralten Krypta war. Ich könnte dir jeden Winkel dieses Ortes aufzeichnen, der für uns jene Hölle war, mit der uns die Mönche ständig drohten. In der Krypta standen in Nischen Steinsarkophage, leere und solche mit Knochenresten von lange verstorbenen Mönchen. Als ich das erste Mal dort hinuntergebracht wurde, fragte ich mich, wozu die Holzbänke mit eingelassenen Löchern und Riemen waren.«
Gerwin betrachtete seinen Freund von der Seite. Hippolyt wirkte konzentriert, als müsse er alle Kraft für diese Erinnerungen
sammeln. In diesem Moment bedauerte Gerwin, ihn dazu gedrängt zu haben.
»Welch teuflischem Gehirn konnten solche Perversionen entspringen? Der Teufel hatte einen Namen - Ignazius. Er war der Vorsteher der Bibliothek.« Hippolyt hustete. »Welche Ironie! Der Hüter des Wissens hatte sich in die Folterliteratur vertieft, um seine eigenen Lüste zu befriedigen. Ignazius war ein großer Mann um die dreißig, knochig, aber unglaublich kräftig. Alle hatten Angst vor ihm. Bei den Auspeitschungen offizieller Bestrafungen schlug er viel heftiger zu als die anderen Mönche. Seine Peitschenhiebe hinterließen tiefe Wunden, obwohl der Abt das nicht wollte. Der Abt war kein übler Mensch, aber wir vermuten, dass Ignazius ein Geheimnis kannte, mit dem er ihn erpresste. Niemand von uns Jungen sprach über das, was in der Krypta vor sich ging.« Hippolyt seufzte tief. »Ignazius drohte mit den schrecklichsten Strafen, und vor Scham und Angst hätte sowieso keiner geredet.«
»Hippolyt, nicht!«
»Nein, Gerwin, es ist gut. Ich erzähle es, damit
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