Die Lava
tötet, dem ist es, als habe er eine ganze Welt ausgelöscht.« Diesen Satz hatte MacGinnis im jüdischen Talmud gefunden und später dann im Heiligen Koran. Er hatte ihn wieder und wieder geschrieben, in Groß- und in Kleinbuchstaben, in Farbe und doppelt und dreifach unterstrichen. Er las das Buch des Predigers, die Klage über die Sinnlosigkeit jedes Seins.
Er wollte Trost finden nach dem jämmerlichen, viel zu lange sich hinziehenden Verlöschen seiner Frau, aber nichts hatte ihm Trost geschenkt – bis er die Beschreibungen der Apokalypse fand: der sich wie ein Pergament zusammenrollende Himmel am Jüngsten Tage des Korans, der bittere Stern, der in der Offenbarung des heiligen Johannes in das Meer stürzt und ein Drittel der Ozeane in Gift verwandelt.
Da war ihm dann die Idee gekommen.
Die Auslöschung der Welt, die sich um ihn herum und in ihm drinnen abspielte, war schließlich seine Kerze, sein Licht in der Finsternis, und er selbst war der Falter, der dieser Flamme zustrebte, um in ihr zu vergehen.
Sein Tagebuch lag offen da, aufgeklappt auf dem Schreibtisch.
Joe hatte das Tagebuch beim Hereinkommen bemerkt und neugierig angelesen – vielleicht waren es ja wichtige Informationen. Aber es war etwas anderes: eine Art Geständnis. Es gab für Joe nur eine Erklärung: MacGinnis wollte entdeckt werden.
Der Tag ist nahe, die Tafel ist bereitet, die saure Frucht liegt im Kessel. Es wird mein Werk sein, und doch ist es das Werk aller Menschen: derer, die 1939 den Krieg begannen, derer, die sich 1942 den Milzbranderreger ausdachten und die dann die Chance nutzten, die sich ihnen bot, als sie die Mutation entdeckten. Nun ist es an mir, meine Chance zu ergreifen. Ich werde mich diesem Auftrag nicht verweigern, ich werde mich der Fügung nicht in den Weg stellen, ich habe alles lange geplant, wer sollte mich nun noch aufhalten?
Es war Reginald MacGinnis gewesen, las Joe atemlos, der den Schatztaucher Gerd Schmidtdresdner angerufen hatte, nachdem er in einer Polizeiakte etwas über dessen illegale Aktivitäten an einem englischen Grabhügel entdeckt hatte. Schmidtdresdner war einfach zu durchschauen und noch einfacher zu kontrollieren, deshalb hatte er ihn beauftragt, die Fracht der Halifax zu bergen. Ihm hatte er von Goldbarren, einem unermesslichen Schatz im Bomber erzählt. Er kannte schließlich die Menschen und ihre Schwächen. Sein ursprünglicher Plan war gewesen, die Bakterien nach der Bergung durch die deutschen Schatzsucher in jeder Hauptstadt der Welt zu deponieren. Natürlich hätte er Schmidtdresdner ordentlich bezahlt.
Er räumte alle Hindernisse aus dem Weg, hätte sogar Hutter geopfert, den er mochte. Er beauftragte zwei Kameraden vom Geheimdienst, Franziska einen gehörigen Schreck einzujagen, aus der ängstlichen Sorge heraus, Hutter könne ihm durch diese Beziehung an Wissen voraus sein. Aber die Schatztaucher fanden die Halifax nicht. Sie waren Stümper.
Dann hatte die Bergung nicht geklappt, weil dieser Idiotden Kran manipuliert hatte in seiner Goldgier. Nun war es am besten, die eigene Operation zu behindern und das Wrack im See ruhen zu lassen. Abzuwarten, bis der Vulkan ausbrach.
Das ist nicht das Tor zur Hölle, es ist die Pforte zum Himmel.
Alles war gut.
Bald würde er bei seiner Frau sein, ihre Haare fühlen, ihre Haut riechen, ihr Lächeln wieder sehen. Dieses Lächeln, das ihn stets so fasziniert hatte. Das Lächeln, das er im Begriff war zu vergessen.
Nicht mehr lange.
Ein glückliches Schicksal, eine göttliche Fügung vielleicht, hatte den Vulkan aktiv werden lassen.
Joe wurde schwarz vor Augen. Fieberhaft las er in den mit akkurater Schrift präzise gefüllten Seiten, blätterte vor und zurück. Er wollte einen Gegenbeweis finden, feststellen, dass es sich nur um die Science-Fiction-Phantasie eines alten Mannes handelte, um ein Spiel mit Metaphern und Möglichkeiten, um Skizzen für ein Buch, das MacGinnis nach seiner Pensionierung schreiben wollte – alles, nur nicht die authentischen Aufzeichnungen von Gedanken. Aber es gelang ihm nicht, sich das vorzumachen.
Joe blätterte fiebrig weiter. Er überflog große Strecken wirrer und selbstquälerischer religiöser Ergüsse – offenbar das Schlimmste und Zornigste, was Bibel und Koran zu bieten hatten – und erreichte wieder eine Stelle, die MacGinnis mehrmals dick unterstrichen hatte und in der er seine wahren Absichten offenbarte. MacGinnis war nicht gerade sein Vorbild gewesen, aber doch ein Denkmal, eine Art
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