Die Lava
Tod.
Joe kämpfte gegen die tiefe Woge des Mitgefühls an, die dieser gebrochene Geist in ihm hervorrief. Doch er hielt die Waffe weiter auf den Alten gerichtet, den schwitzenden Zeigefinger um den Auslöser gekrümmt.
»Erschießen Sie mich, Hutter«, brachte MacGinnis lustlos und müde hervor, »Sie tun mir damit einen Gefallen.«
»Ich rufe jetzt die Polizei«, erklärte Joe so nüchtern und ruhig, wie er konnte, »und Sie bleiben still hier stehen.«
MacGinnis schritt auf Joe los, die Hände mit einem letzten Kraftaufwand zu Fäusten geballt. »Ich werde Sie niederschlagen und entkommen, wenn Sie mich nicht auf der Stelle abknallen.«
Joe Hutters Hand zitterte, als er schoss. Aber er traf.
MacGinnis sackte zur Seite.
»Endlich«, hauchte er, »endlich!« Er griff dann mit seiner Hand verwundert an sein Bein, hob die blutverschmierten Finger vor seine Augen.
»Sie haben mich geschont«, flüsterte er verblüfft, »Sie haben mich …« Dann brach er zusammen und stürzte zu Boden.
»… nur ins Bein geschossen«, ergänzte Joe.
Seit einer halben Stunde lag die Handly Page Halifax auf dem Stahlgerüst am Ufer. Die Sonne stand hoch über dem Kessel des Laacher Sees, und den knallblauen Himmel, der sich über ihm spannte, durchzogen zahllose weiße Kondensstreifen.
Die Zuschauer, die sich mittlerweile zu Hunderten angesammelt hatten, wussten nicht, was sie mehr bestaunen sollten: den Geysir in ihrem Rücken, der nach wie vor alle zehn Minuten ausbrach, oder das rostige Gerippe des Riesenflugzeugs, das sich wie ein gestrandeter Wal hinter der Absperrung vor ihnen befand. Der Geysir war mittlerweile von einem zwei Meter hohen Bauzaun aus Metall umgeben, an dem ein gelbes Schild mit den Worten »Vorsicht – Lebensgefahr« hing.
Neals weiße Haare standen wirr zur Seite, Schweiß perlte an seiner Stirn, als er die Muttern festzog, die das Flugzeug am Gestell verankerte. Joe untersuchte den Bombenschacht. Da war nichts zu machen, die Bomben mussten aus dem Wrack herausgefräst werden.
Die Gruppe hatte ihren Kopf verloren. MacGinnis, der die Verbindung zu den deutschen Behörden und zu dem britischen Geheimdienst hielt, saß im Gefängnis – zumindest in einer Polizeizelle. Hutter telefonierte mit dem Umweltministerium des Landes Rheinland-Pfalz, kannte aber die zuständige Kontaktperson nicht und drang nicht bis zu der entsprechenden Dienststelle durch, da half auch kein Überreden und kein Erklären. Wer konnte schon sagen, wie viele Verrückte jeden Tag in der Behörde anriefen und sonderbare Geschichten über seltsame Dinge in Seen erzählten?
Also wandte er sich an die Polizei, erklärte das Allernötigste und bat um Unterstützung.
Neal untersuchte inzwischen ebenfalls den Bombenschacht der Halifax und bestätigte Joes Diagnose – es ging nicht anders, die Bomben mussten aus dem Wrack herausgetrennt, auf einen Lastkraftwagen verladen und zum Entschärfen in die Fabrikhalle bei Koblenz gebracht werden. Und nun wurde es brenzlig: Da konnte einiges schiefgehen. Um Augenzeugen, aber auch schwerwiegende Unfälle zu vermeiden, war es unumgänglich, die Caldera zu räumen. Die Evakuierung würde eine weitere Stunde Zeit kosten.
Joe beobachtete die Polizisten, die beruhigend auf die Menschen einredeten und ihnen erklärten, dass sie den Krater verlassen mussten. Die meisten schienen verständig zu sein, einige nickten, andere wurden laut, sahen es dann aber ein. Hutter und Neal hatten den Polizisten berichtet, dass die TNT- und Amatol-Bomben auch noch nach vielen Jahren hochgehen konnten.
Hutter erklärte kurz, dass Amatol dazu diente, Befestigungsanlagen und Brücken, also massive Bauten aus Stein und eisenverstärktem Beton zu vernichten. Amatol wies damals eine weit höhere Sprengkraft auf als die meisten gewöhnlichen Sprengstoffe. TNT war den Beamten vertraut. Neal lieferte die Information nach, dass es – selbst wenn es nicht explodierte – die Zuschauer massiv gefährden könnte. TNT ist hoch giftig, führt bei Hautkontakt zu schweren allergischen Reaktionen. Kaum auszumalen, was passierte, sollte eine TNT-Bombe lecken – und sich Hunderte neugieriger Menschen um sie drängen, um mit dem Handy Fotos fürs Familienalbum aufzunehmen. Es musste ja alles sofort auf YouTube gestellt werden heutzutage.
Das genügte den Polizisten. Sie verstanden.
Franziska löste sich aus der Zuschauermenge und schlüpfteunter dem Absperrband hindurch. Ein Polizist bemerkte sie, lief ihr nach, doch Joe winkte ihm
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