Die Lava
doch«, beschwichtigte Mr. Glattrasiert mit einer ausdruckslosen, fast gelangweilten Stimme. Er sah den Kobold böse an: »Let her go«, befahl er ihm.
Clara stand am Tisch und heulte.
»Wer sind Sie eigentlich?«, rief Franziska empört aus. »Ich habe Ihre Ausweise nur kurz gesehen, als Sie hereinkamen.«
»Sie sollten uns nicht als Ihre Feinde betrachten«, antwortete der Smarte. »Wir können nicht befehlen, was Sie zu tun oder zu lassen haben. Aber wir können Ihnen nur gut zuraten, dass Sie Ihr naives Vertrauen zu Herrn Hutter aufgeben.«
»Und warum?«
»Sie verstehen sicher …« Der Smarte stand auf, der Kobold folgte wie eine Marionette. Sie liefen bereits zur Eingangstür, obwohl Franziska noch saß. Der Smarte drehte sich noch einmal um und nickte Franziska zu, als fordere er sie auf, zu ihm zu kommen und die Tür für ihn zu öffnen.
»Wir wollen uns wirklich nicht einmischen«, meinte der Smarte versöhnlicher, nachdem er die Tür selbst geöffnet hatte, »aber wir sind nicht ohne Grund gekommen. Ich darf Ihnen keine Vorschriften machen, aber ich kann Ihnen einen guten Rastschlag geben: Es wäre wirklich besser, Sie hielten Abstand zu Hutter.«
Franziska sah ihn ungläubig an. Warum gab man ihr das zu verstehen? Wer waren die Männer überhaupt?
»Es ist besser für Sie«, ergänzte der Kobold, die ersten Worte, die er überhaupt gesprochen hatte, mit einer überraschend angenehmen Stimme.
Dann waren die beiden draußen. Franziska ließ die Tür hinter ihnen zufallen.
Endlich waren die beiden weg!
Aber: Wo war Joe Hutter?
Und: Wer war Joe Hutter überhaupt?
Über den Bildschirm flackerte eine Aufnahme des Laacher Sees, offenbar im Winter gemacht, denn es lag noch Schnee, und darin züngelten, aus einer Dokumentation über Hawaii entnommen und über den friedlichen Eifelsee geblendet, Lavafontänen. Ein Reporter stand vor dem See, ließ sich vom Wind die Haare zerzausen und sprach in ein Riesenmikrofon, das in eine Art Schafswolle gewickelt war. Auch die weiße Wolle zappelte im Wind. Franziska hörte nicht, was der wackere Mann sagte, sie hatte das Gerät auf stumm geschaltet.
Am Morgen hatte der See wieder gebebt, die privaten Fernsehkanäle nutzten die Gelegenheit für weitere Panikmache.
Franziska schaltete entnervt ab.
»Im Kindergarten haben sie gesagt, dass wir hier bald alle sterben müssen«, meinte Clara traurig.
»Wer hat das gesagt?«, erkundigte sich Franziska entsetzt.
»Die anderen Kinder.«
»Und warum?«
»Weil der Berg explodiert«, antwortete Clara. »Stimmt das, Mama?«
Clara kletterte auf Franziskas Schoß. Franziska legte eine Hand auf den Kopf ihrer Tochter und strich ihr durch das Haar.
»Nein, das stimmt nicht«, erwiderte sie. Noch spukten ihr die beiden seltsamen Briten und ihre unerwartete Warnung im Kopf herum.
Sie erblickte den Stapel bemaltes Papier, den ihre Tochter auf dem Küchentisch hinterlassen hatte: Es war immer das gleiche Bild, mit leichten Variationen: Oben, im linken Eck, klebte eine Viertelkreissonne mit Stupsnase, großen Augenund lächelndem Mund. Ihre langen gelben Strahlen breiteten sich über die ganze Zeichnung aus. Auch über den großen blauen Kreis inmitten stilisierter Bäume, aus dem Qualm und rote Striche quollen – die Lava. Es sollte der Laacher See sein. Daneben hatte Clara kleine gelbe Kästen mit spitzen roten Dreiecken darüber gemalt: die Häuser der Menschen und ihre Dächer. Die Dächer brannten.
Was die Medien alles anrichten, schoss es Franziska durch den Kopf, dann erinnerte sie sich daran, dass sie selbst bei diesem Zirkus mitgemacht hatte. Der Grat zwischen berechtigter Warnung und Sensationsgier war schmal. Warnte sie die Menschen, und es geschah nichts, hatte sie nur die nun vorherrschende Katastrophenangst bedient. Warnte sie gegen besseres Wissen nicht und der Laacher Vulkan brach aus, nahm sie all jenen, die vielleicht fliehen konnten, diese letzte Chance.
»Wenn der Vulkan ausbricht«, beruhigte Franziska ihre verängstigte Tochter, »dann werden wir vorher alle gerettet.« Sie vermutete, dass es längst einen Evakuierungsplan gab.
»Wird Joe uns retten?« Clara blickte sie aus großen Augen an. Die Augen strahlten: Clara wollte von Joe gerettet werden.
Franziska hätte am liebsten nein gesagt. Es war eine Frage, die sie nicht beantworten konnte – nicht einmal sich selbst. »Als wir uns das letzte Mal trafen«, log sie, »wusste er noch nicht, ob er bald abreist.« Clara sollte nicht denken, Joe habe
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