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Die Lava

Die Lava

Titel: Die Lava Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Magin
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war. Hier, diesen breiten Ast, der sich wie ein Krakenarm über den Pfad schob und dann wieder in die Höhe stieg, das Schilf, durch das er gerobbt war – irgendwo hier in der Nähe, etwas den Hang hinauf, stand eine kleine windschiefe Hütte, in die er sich zurückziehen konnte. Erst einmal schlafen, dachte er. Dann jemanden um Hilfe rufen. Er tastete seine Seite ab. Die Wunde war nicht klein, aber sie blutete nicht mehr. Eigentlich sollte er MacGinnis anrufen. Musste er ins Krankenhaus? Ihm fehlte die Kraft für Entscheidungen. Erst einmal zur Hütte kommen.
    Den Abhang hoch – doch das war leichter gesagt als getan. Die Anstrengung war gewaltig. Die Schräge kam ihm vor wie eine steile Felswand in den Cairngorms, den steilsten Bergen Schottlands. Laub bedeckte den Boden, und es schien ihm, als rutsche das Laub bei jeder seiner unbeholfenen Bewegungen, als führte ihn jeder Schritt nach oben zwei Schritte zurück zum See.
    Ein brauner Fleck, dort, zwischen den Bäumen. Ein roter Fleck darauf, das rostige Wellblechdach. Es konnte nicht mehr weit sein.
    Das letzte Mal, das ihm so übel gewesen war, lag über fünfzehn Jahre zurück. Er protestierte an irgendeinem gottverlassenenWeg in einem gottverlassenen Winkel im regengepeitschten Wales gegen einen Atomtransport zur Nuklearschleuder Sellafield, und der Staat ließ es sich nicht nehmen, deutlich zu demonstrieren, dass er keinen Widerstand gegen sein Atomprogramm wünschte. Damals traf ihn der Schlagstock eines Polizisten direkt in den Magen, und als er zu Boden ging, schlug der Mann ein zweites Mal zu, auf Hutters Hinterkopf, bis alles in Farben tanzte, Sonnen sprühten, schließlich die ganze Welt in einer gewaltigen Explosion verging und er das Bewusstsein verlor. Freunde schleppten ihn weg und brachten ihn in Sicherheit.
    Die Hütte befand sich in einer Mulde, und Hutter stürzte den kleinen Abhang hinunter und schlug gegen die Tür. Sie sprang mit einem knarrenden Geräusch auf.
    Als Hutter erneut die Augen öffnete, war es längst finster geworden. Er lag auf dem Rücken und blickte direkt in den klaren Sternenhimmel. Die winzigen Lichter drehten sich. Wieder spürte er, wie sein Magen rebellierte. Säure sammelte sich in seinem Mund. Er hob mühsam den Kopf und spie aus.
    Er drückte sich mit den Füßen auf dem Boden ab und schob sich in die Hütte hinein. Der Tür fiel hinter ihm zu und klapperte ein-, zweimal gegen den Rahmen. Es roch muffig, nach altem Heu.
    Hutter war so weit wach, dass er sich seine Wunde genauer betasten konnte. Es stach nicht mehr in die Seite, wenn er sie berührte, es tat nur noch weh. Das Blut bildete eine harte Kruste, es war längst getrocknet. Offensichtlich trat auch kein neues Blut mehr aus. Ein gutes Zeichen. Die Wunde war etwa fingergroß, die Harpune musste ihn in die Seite getroffen haben. Aus der Tatsache, dass er noch am Leben war, schloss er, dass keine inneren Organe verletzt worden waren. Vielleicht hatte der Taucheranzug ihn geschützt. Er atmete auf.
    Auf dem Boden der Hütte lag Stroh, darüber ein alterSchlafsack mit einem hässlichen Blumenmuster. Er krümmte sich auf dem Fetzen zusammen und versuchte einzuschlafen. Wellen von Schmerzen durchfuhren ihn, dann merkte er, dass er zitterte, obwohl es so kalt gar nicht sein konnte.
    Er hob eine Hand an seine Stirn. Sie war heiß, Schweiß rann herab, tropfte ihm in die Augen. Ich habe Fieber, dachte er. Dann verlor er erneut das Bewusstsein.
    Er konnte nicht sagen, wie lange diese neuerliche Ohnmacht gedauert hatte, aber als er die Augen öffnete, krochen bereits erste Lichtfinger durch die angelehnte Tür in das Innere der Hütte.
    Er hob den Kopf. Die Welt war nicht mehr verschwommen, die Baumstämme waren Baumstämme mit Rindenmuster, sie standen still und fest an ihrem Platz und tanzten nicht. Er fühlte seine Stirn: trocken. Er fühlte seine Seite, der Druck war unangenehm, aber der Schmerz durchfuhr ihn nicht mehr. Gut!
    Er hatte Hunger und Durst.
    Er musste unbedingt MacGinnis verständigen, ihm sagen, wo er war. Er musste die anderen davor warnen, dass sie bei ihren Tauchgängen auf bewaffnete, zu allem entschlossene Gegner treffen konnten. Er musste … er hatte … da war doch ein Wrack gewesen? Hatte er die Halifax lokalisiert? Immer wenn er seine Erinnerungen aufrufen wollte, versanken sie in grauem Schlamm, hatte er Wolle statt Nervenzellen unter seinem Schädel. Er fluchte.
    Er sollte MacGinnis anrufen. Vermutlich hatte der in der letzten Nacht ein

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