Die Lazarus-Formel
also im Zentrum, und von dort aus führte ein Abwasserkanal direkt bis zum Rhein, unter der alten Stadtmauer hindurch.«
»Woher wissen Sie das alles?«
Er schaute sie mit einem Mal ähnlich an wie vorhin im Flugzeug. Dann drehte er sich wieder um und ging weiter. »Dieser Abwasserkanal existiert heute noch«, sagte er, ganz so, als hätte sie ihm überhaupt keine Frage gestellt. »Und er führt genau in die Krypta unter dem Dom.«
Eve verkniff es sich mit einiger Mühe, ihre Frage zu wiederholen, und folgte ihm. Nach wenigen Minuten erreichten sie das Rheinufer nahe der Hohenzollernbrücke.
Ben blickte zum Dom zurück, wie um sich zu orientieren, dann ging er leicht nach links in Richtung Brücke die Böschung hinunter. Vor einer kleinen Gruppe von Büschen blieb er stehen.
»Jetzt kann es ein wenig kratzig werden«, sagte er und trat in das Buschwerk hinein.
Eve zwängte sich hinterher. Die Zweige schrappten ihr über die Arme, aber es gelang ihr, sie von ihrem Gesicht fernzuhalten. Nach vier oder fünf Schritten hatte sie Ben eingeholt. Er stand vor einem etwa zwei Meter hohen, tunnelförmigen Loch, das in die Böschung hineinführte. Es war mit einer modernen Stahlgittertür und drei Vorhängeschlössern gesichert.
»Voilà«, sagte er zufrieden und nahm einen Bolzenschneider aus der Umhängetasche, die er am Boden abgestellt hatte. Während er mit dem schweren Werkzeug die Bügel der drei Schlösser durchtrennte, als wären sie aus Butter, durchsuchte Eve den großen Beutel nach Taschenlampen und fand zwei große Maglites.
»Die hier war einfach«, sagte Ben, steckte den Bolzenschneider wieder weg, schulterte die Umhängetasche und schob die Tür nach innen auf. Dann nahm er eine der beiden Maglites von Eve entgegen und leuchtete in den dunklen Abwasserkanal. »Die auf der anderen Seite wird mit Sicherheit kniffliger.«
31
Wie es der Natur eines Abwasserkanals entspricht, verlief der Tunnel nahezu vollständig gerade und mit leichtem Anstieg vom Fluss weg. Er führte sie in exakt westlicher Richtung zum Dom zurück. Eve war froh darüber, dass er trocken war und die Luft darin frisch und sauber.
»Gut erhalten«, flüsterte sie entsprechend erleichtert.
»Er wurde auch zweitausend Jahre lang fortwährend in Schuss gehalten«, sagte Ben, während sie den beiden zitternden Lichtkegeln ihrer Maglites folgten. »Als Fluchtweg und auch als Schmugglertunnel. Die Hausherren des Doms haben diesen Gang sogar noch während der französischen Besetzung des Rheinlands Ende des achtzehnten Jahrhunderts benutzt, und zwar um den Domschatz unbemerkt unter den Füßen der Soldaten Napoleons hindurch zum Rhein zu schaffen und ihn von dort aus in Sicherheit zu bringen.«
»Ist schon seltsam«, überlegte Eve laut, »dass so etwas so lange existieren kann, ohne von den meisten Menschen überhaupt wahrgenommen zu werden.«
»Der moderne Mensch würde sich wundern«, meinte Ben, »wenn nicht sogar zu Recht gruseln, wenn er wüsste, wie viele unserer Städte und sogar Dörfer heute noch von uralten Tunneln und Gewölben wie diesem hier unterirdisch durchzogen sind.«
Eve erinnerte sich an die bronzezeitliche Höhle unter Glastonbury Tor und fühlte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief bei dem Gedanken, dass ein solcher Ort oder ein Tunnel wie dieser vielleicht auch unter ihrem Haus in Risinghurst bei Oxford existierte. Aber der Gedanke an ihr Zuhause und was damit geschehen war – dass es zerstört und Anne darin auf so brutale Weise getötet worden war –, schmerzte zu sehr, und sie schob ihn beiseite.
Sie erreichten die zweite Stahlgittertür am Ende des Tunnels. Ben leuchtete mit seiner Taschenlampe zwischen den Gittern hindurch, und was Eve sah, ließ ihr den Atem stocken.
Es war eine riesige unterirdische Halle voller römischer Ruinen, mittelalterlicher Sarkophage und gewaltiger Pfeiler aus Granit. Letztere waren die Fundamente des Doms, und Eve überfiel ein klaustrophobisches Gefühl, als ihr bewusst wurde, dass sie sich direkt unter Zehntausenden Tonnen himmelhoch getürmtem Stein befand.
Die Decke über der Halle war glatt. Sie war zugleich der Fußboden der darüber stehenden Kathedrale.
»Halten Sie die.« Ben drückte ihr seine Maglite in die Hand. »Leuchten Sie damit auf das Relais hier neben dem Schloss der Tür.«
Anders als die Tür am Rheinufer war diese nicht durch Vorhängeschlösser gesichert, sondern mit einem modernen Riegelmechanismus mit Schließzylindern und Alarmanlage, wie
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