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Die Lebensfreude

Die Lebensfreude

Titel: Die Lebensfreude Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emil Zola
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gewandert, hatte er den Lazarettdienst in allen französischen Kolonien versehen. Er hatte die Epidemien an Bord, die ungeheuerlichen Krankheiten der Tropen, die Elefantiasis in Cayenne, die Schlangenbisse in Indien behandelt; er hatte Menschen aller Farben getötet, die Wirkungen der Gifte an Chinesen studiert und Neger in den heiklen Versuchen der Vivisektion geopfert. Und heute brachte ihn dieses kleine Mädchen mit ihrem bißchen Halsweh um allen Schlaf; seine eisernen Hände zitterten, seine Vertrautheit mit dem Tode ließ ihn aus Furcht vor einem verhängnisvollen Ausgange im Stich. Um diese merkwürdige Regung zu verbergen, versuchte er sogar die Verachtung des Leidens zu heucheln. Man sei zum Leiden geboren, wozu sich also darüber aufregen?
    Jeden Morgen sagte Lazare zu ihm:
    »Versuchen Sie etwas, Doktor, ich beschwöre Sie ... Es ist fürchterlich, sie kann keinen Augenblick mehr schlummern. Sie hat die ganze Nacht geschrien.«
    »Aber zum Donnerwetter, das ist doch nicht meine Schuld«, pflegte der Arzt aufgebracht zu antworten. »Ich kann ihr doch nicht den Hals abschneiden; das wäre freilich das Einfachste, sie zu heilen.«
    Der junge Mann ärgerte sich ebenfalls.
    »Dann ist die Medizin zu nichts gut?«
    »Zu gar nichts, wenn die Maschine aus dem Gange kommt. Das Chinin hebt das Fieber auf, ein Abführungsmittel wirkt auf die Därme, man muß bei einem Schlaganfall zu Ader lassen ... In allem übrigen geht es auf gut Glück. Man muß sich der Natur anheimgeben.«
    Das waren Zornesausbrüche über die Ohnmacht seines Könnens. Gewöhnlich wagte er nicht die Medizin so rundweg zu verleugnen, obgleich er genug praktiziert hatte, um zweifelnd und bescheiden zu sein. Er verlor ganze Stunden am Bette beim Studium der Kranken und ging mit gebundenen Händen davon, ohne selbst ein Rezept zurückzulassen, weil er nichts anderes tun konnte, als der vollen Entwicklung des eiterigen Geschwüres beizuwohnen, das um eine Linie mehr oder weniger das Leben oder den Tod bedeuten mußte.
    Lazare schleppte sich acht volle Tage in schrecklicher Angst hin. Auch er erwartete von einem Augenblick zum andern den Urteilsspruch der Natur. Bei jedem mühseligen Atemholen glaubte er, alles sei zu Ende. Das Blutgeschwür verkörperte sich zu einem lebendigen Bilde; er sah es ungeheuerlich, die Luftröhre versperren; noch ein geringes Anwachsen der Schwellung und die Luft würde keinen Durchgang mehr finden. Seine schlecht verdauten zwei Jahre Medizin verdoppelten seine Angst. Besonders brachte ihn der Schmerz außer sich, versetzte ihn in eine nervöse Aufregung, gab ihm eine leidenschaftliche Auflehnung gegen das Dasein ein. Warum dieser Greuel des Schmerzes? War es nicht furchtbar überflüssig, dieses Zwicken des Fleisches, dieses Brennen und Verkrümmen der Muskel, wenn das Übel sich an einem Mädchenkörper von so zarter Weiße machte?« Ein Bann des Übels führte ihn unaufhörlich an das Bett zurück. Er fragte sie, auf die Gefahr hin, sie zu ermüden: ob sie noch leide? wo es jetzt sitze? Oft ergriff sie seine Hand und legte sie an ihren Hals: dort war es wie ein unerträgliches Gewicht, wie eine Kugel von glühendem Blei, die zum Ersticken pulsierte. Die Migräne wich nicht mehr von ihr, sie wußte nicht von Schläfrigkeit gefoltert, wie den Kopf betten; in den zehn Tagen, seitdem das Fieber sie schüttelte, hatte sie keine zwei Stunden geschlafen. Eines Abends hatten sich, um das Elend voll zu machen, auch noch heftige Ohrenschmerzen eingestellt; bei diesen Anfällen verlor sie völlig das Bewußtsein, es war ihr, als zermalme man ihr die Backenknochen. Sie gestand jedoch dieses ganze Martyrium nicht Lazare, sie zeigte einen festen Mut, denn sie fühlte, daß er fast ebenso krank war wie sie selbst, sein Blut von ihrem Finger glühend, seine Kehle von ihrer Geschwulst gewürgt. Oft log sie sogar, es gelang ihr im Augenblick der heftigsten Beängstigungen zu lächeln: es lege sich, sagte sie, und nötigte ihn zu einer kurzen Rast. Das Schlimme war, daß sie selbst den Speichel nicht mehr schlucken konnte, ohne einen Schrei auszustoßen, so entsetzlich war ihr Kehlkopf bereits geschwollen. Lazare fuhr jäh aus dem Schlafe: begann die Geschichte von neuem? Abermals befragte er sie, wollte den Sitz des Übels wissen, während sie mit schmerzerfülltem Gesicht und geschlossenen Augen kämpfte, um ihn zu täuschen, und stotterte, es sei nichts, irgendein Etwas, das ihr einen Kitzel verursacht habe.
    »Schlafe und sorge dich

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