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Die Lebensfreude

Die Lebensfreude

Titel: Die Lebensfreude Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emil Zola
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außerordentlichen Anmaßung die Arme zum Himmel.
    Als Lazare in das Zimmer zurückkehrte, hieß er seine Mutter und Veronika sich noch ein wenig ausruhen: er hätte ohnehin nicht schlafen können. Er sah das Tageslicht in dem in Unordnung geratenen Zimmer anbrechen, dieses traurige Morgenrot der in Todeskämpfen verbrachten Nächte. Die Stirn an eine Scheibe gepreßt, blickte er verzweiflungsvoll den bleifarbenen Himmel an, als ein Geräusch ihn zwang, den Kopf zu wenden. Er glaubte, Pauline stehe auf. Es war indessen der von allen vergessene Mathieu, der endlich den Platz unter dem Bette verlassen und sich dem jungen Mädchen genähert hatte, dessen eine Hand über die Decke hinabhing. Der Hund leckte diese Hand mit solcher Zartheit, daß Lazare völlig gerührt ihn am Halse faßte und sagte:
    »Du siehst, mein armer Dicker, deine Herrin ist krank ... Aber es ist nichts, geh! Wir galoppieren alle drei wieder lustig herum.«
    Pauline hatte die Augen aufgeschlagen und lächelte trotz des schmerzlichen Zuckens ihres Gesichtes.
    Jetzt begann ein Leben voller Beängstigungen, der Alpdruck, der uns im Zimmer eines Kranken befällt. Lazare trieb im Gefühle einer wilden Leidenschaft alle hinaus, er erlaubte es kaum, daß seine Mutter oder Luise des Morgens kamen, um sich zu erkundigen; er ließ nur Veronika zu, bei der er eine wahre Zärtlichkeit herausfühlte. Während der ersten Tage hatte Frau Chanteau ihm die Unschicklichkeit begreiflich machen wollen, daß ein Mann ein junges Mädchen pflege; aber er war aufgebraust; sei er nicht ihr Gatte? Außerdem pflegten Ärzte sehr wohl Frauen. Zwischen ihnen gab es in der Tat keinerlei schamhaften Zwang. Das Leiden, vielleicht gar der bevorstehende Tod, verscheuchte die Sinnlichkeit. Er leistete ihr alle die kleinen Dienste, hob und legte sie wie ein mitleidiger Bruder, der in diesem begehrenswerten Körper nur das Fieber sah, das ihn durchschauerte. Es war wie eine Verlängerung ihrer gesunden Kindheit, sie kehrten zu der keuschen Nacktheit ihrer ersten Bäder zurück, als er sie noch wie ein unreifes Kind behandelte. Die Welt verschwand, nichts war mehr vorhanden als die zu trinkende Arznei, die vergebens von Stunde zu Stunde erwartete Besserung, die niederen, plötzlich eine große Wichtigkeit annehmenden Einzelheiten des tierischen Lebens, die für die Heiterkeit oder Traurigkeit der Tage ausschlaggebend waren. Die Nächte folgten den Tagen; das Dasein Lazares schwebte gleichsam über der Leere auf und nieder mit der von Minute zu Minute drohenden Gefahr eines Sturzes in das Dunkel.
    Doktor Cazenove besuchte Pauline alle Morgen, er sprach selbst des öfteren noch einmal des Abends nach Tische vor. Bei seinem zweiten Besuche hatte er sich zu einem reichlichen Aderlaß entschlossen. Aber das für einen Augenblick verscheuchte Fieber war wieder erschienen. Zwei Tage verstrichen, er war sichtlich betroffen, denn er begriff die Zähigkeit des Übels nicht. Weil das Mädchen immer größere Mühe hatte, den Mund zu öffnen, konnte er den Schlund nicht untersuchen, der ihm geschwollen und von einer blassen Röte erschien. Endlich klagte Pauline über eine wachsende Spannung, die ihren Hals zu sprengen drohte, und der Doktor sagte eines Morgens zu Lazare:
    »Ich vermute ein Blutgeschwür.«
    Der junge Mann führte ihn in sein Zimmer. Er hatte gerade am Abend vorher beim Durchblättern eines alten Handbuches der Pathologie die Seiten über die retro-pharyngitischen Blutgeschwüre gelesen, die den Tod durch Ersticken zur Folge haben können, indem sie die Luftröhre zusammendrücken. Er fragte sehr bleich:
    »Dann ist sie verloren?«
    »Ich hoffe nein«, erwiderte der Arzt. »Wir werden sehen.«
    Doch verbarg er selbst seine Besorgtheit nicht. Er gestand seine fast völlige Ohnmacht in dem vorliegenden Falle ein. Wie wollte man ein Blutgeschwür im Grunde dieses zusammengezogenen Mundes aufspüren? Es zu früh öffnen, konnte gleichfalls bedenkliche Folgen herbeiführen. Das beste war, die Natur walten zu lassen, was jedoch sehr lange dauern und mit großen Schmerzen verbunden sein würde.
    »Ich bin nicht der liebe Gott!« rief er, als Lazare ihm das Unnütze der Wissenschaft vorhielt.
    Die Zärtlichkeit, welche der Doktor Cazenove für Pauline empfand, wandelte sich bei ihm in eine verdoppelte prahlerische Schroffheit. Dieser stattliche Greis, dürr wie ein wilder Rosenstamm, war in das Herz getroffen. Dreißig Jahre lang hatte er die Welt durchfahren, war er von Schiff zu Schiff

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