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Die Lebensfreude

Die Lebensfreude

Titel: Die Lebensfreude Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emil Zola
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alles das einen Augenblick staunend an, ohne es zu erkennen. War er wirklich dort so oft vorübergegangen? Der Sinn der Dinge schien ihm verwandelt, nie vorher war er so in die Formen und Farben eingedrungen. Seine Mutter mußte sterben! Er schritt immer weiter, als wolle er diesem ihn betäubenden Gesumme entfliehen.
    Plötzlich vernahm er ein Schnaufen hinter sich. Er wandte sich um und erkannte den Hund, der mit heraushängender Zunge am Ende seiner Kräfte war. Da sprach er laut:
    »Mein armer Mathieu, du kannst nicht weiter... Komm, wir wollen heimkehren. Man hat gut sich abschütteln, man denkt trotzdem daran.«
    Am Abend speiste man in aller Hast. Lazare, dessen zusammengeschnürter Magen nur einige Bissen Brot duldete, beeilte sich hinaufzusteigen; er gebrauchte seinem Vater gegenüber den Vorwand einer dringlichen Arbeit. Im ersten Stockwerk trat er bei seiner Mutter ein und zwang sich fünf Minuten Platz zu nehmen, ehe er sie küßte und ihr eine gute Nacht wünschte. Sie vergaß ihn indessen vollständig und beunruhigte sich nie über das, was tagsüber aus ihm werde. Als er sich über sie beugte, reichte sie ihm die Wange hin und schien dieses hastige »Gute Nacht« natürlich zu finden, da sie stündlich immer mehr von der unwillkürlichen Selbstsucht ihres Endes verzehrt wurde. Er flüchtete; Pauline kürzte den Besuch ab, indem sie einen Vorwand zu seiner Entfernung ersann.
    Bei sich in seinem großen Zimmer des zweiten Stockwerkes aber verdoppelten sich Lazares Qualen. Es war besonders die Nacht, die endlose Nacht, die auf seinem wirren Geist lastete. Er nahm Kerzen mit hinauf, um nicht ohne Licht zu sein; er zündete eine nach der andern an bis zum Morgengrauen, von dem Entsetzen vor der Finsternis ergriffen. Hatte er sich niedergelegt, so versuchte er vergebens zu lesen, nur seine alten medizinischen Bücher hatten noch Interesse für ihn; aber auch diese stieß er von sich, er hatte schließlich Furcht vor ihnen. Dann blieb er mit weitgeöffneten Augen auf dem Rücken liegen mit der einzigen Empfindung, daß sich in seiner Nähe hinter der Wand etwas Entsetzliches zutrug, dessen Last ihn erstickte. Er hatte den Atem seiner sterbenden Mutter in den Ohren, diesen Atem, der seit zwei Tagen so stark geworden war, daß er ihn von jeder Stufe der Treppe aus vernahm; er wagte sich deshalb nur noch mit beschleunigtem Schritte dorthin. Das ganze Haus schien eine einzige Klage auszuhauchen, er vermeinte, davon in seinem Bette aufgerüttelt zu werden, und eilte, beunruhigt durch die bisweilig eintretende Stille, mit nackten Füßen auf den Treppenabsatz, um sich lauschend über das Geländer zu beugen. Unten wachten Pauline und Veronika gemeinsam bei offener Tür. um das Zimmer zu lüften. Er bemerkte das bleiche Viereck des unbeweglichen Lichtes, das die Nachtlampe auf die Fliesen warf und fand den starken, tiefen, langgezogenen Atem in dem Schatten wieder. Er ließ jetzt ebenfalls, wenn er schlafen ging, die Tür offen; denn er hatte das Bedürfnis, dieses Röcheln zu hören, es war ein ihn beständig verfolgender Bann, und er verfolgte ihn in den Halbschlaf hinein, in den er endlich beim Morgengrauen sank. Wie zur Zeit der Krankheit seiner Base war sein Entsetzen vor dem Tode verschwunden. Seine Mutter mußte sterben, alles mußte sterben, er ergab sich in diese tiefe Umwälzung des Lebens ohne ein anderes Gefühl als das der Erbitterung über seine den Gang der Dinge nicht ändern könnende Ohnmacht. Am folgenden Tage begann der Todeskampf der Frau Chanteau, ein geschwätziger Todeskampf, der volle vierundzwanzig Stunden dauerte. Sie hatte sich beruhigt, das Entsetzen vor dem Gifte lähmte sie nicht mehr; und sie sprach mit sich selbst ohne Aufhören, mit klarer Stimme, in schnellen Sätzen, ohne den Kopf vom Kissen zu erheben. Es war das keine Plauderei, denn sie richtete das Wort an niemanden, es schien dagegen, als beeile sich ihr Gehirn, bei der Auflösung der Maschine wie eine ablaufende Uhr zu arbeiten, und als sei der Strom der abgerissenen, hastigen Worte das letzte Ticktack ihres Verstandes nach Ablaufen der Kette. Die ganze Vergangenheit zog an ihr vorüber, kein Wort über die Gegenwart, ihren Gatten, ihren Sohn, die Nichte, dieses Haus in Bonneville, in dem ihr Ehrgeiz zehn Jahre lang gelitten hatte. Sie war noch das Fräulein de la Vignière, welches des Stundengeldes wegen zu den vornehmen Familien von Caen lief; sie nannte vertraulich Namen, die weder Pauline noch Veronika je vernommen

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