Die Lebenskünstlerin (German Edition)
anschauen“, fragt er mich.
„Den Liebestrank“, antworte ich ohne nachzudenken.
„L' elisir d'amore von Donizetti“.
Raphael kennt dieses Stück nicht und möchte, dass ich ihm den Inhalt der Geschichte beschreibe. Ich erzähle ausführlich und lebhaft vom Bauer namens Nemorino, der die Liebe einer Frau durch die Einnahme eines magischen Liebeselixiers gewinnen will. Es ist eine wunderbar romantische und humorvolle Oper.
Mein Erzengel amüsiert sich über meine anschauliche und hingebungsvolle Beschreibung. Er verspricht zu überprüfen, ob das Stück irgendwo aufgeführt wird.
Das Gespräch verläuft völlig ohne liebesgeschwängerte Emotionen seinerseits ab, jedenfalls habe ich keine bemerkt. Ob er aus irgendeinem Grund das Interesse an mir verloren hat? Ob es mit seinem mutmaßlichen Geheimnis zusammenhängt?
Dr. Google muss es lösen. Ich tippe Raphaels Namen und die auf der Visitenkarte genannte Klinik in die Suchmaschine ein.
Im Nu werde ich fündig. Seine Angaben stimmen wirklich. Er ist tatsächlich Chefarzt einer Psycho-Klinik. Sogar mit einem Foto ist er abgebildet und seine Vita inklusive vielfältiger Doktorarbeiten stehen eindrucksvoll aufgelistet daneben.
Mein Misstrauen wird sofort durch ein rosarotes Hochgefühl abgelöst. So ein schmucker Mann , hätte meine Großmutter gesagt. Die kannte sich aus, schließlich war ihre Lieblingslektüre Der Bergdoktor , lache ich in mich hinein und küsse hingebungsvoll das Foto von Dr. Raphael Claudio auf dem Bildschirm.
Frohgemut koche ich mir ein ungesundes Chinasüppchen mit dem Geschmacksverstärker Glutamat für neununddreißig Cent und sehe nebenher die vielen E-Mails im Posteingang durch. Uninteressiert überfliege ich sie. Sogar der Müritzfan schreibt lange herzzerreißende Erklärungen.
Doch der Einzige, der mich momentan interessiert ist mein Psychodoktor.
Mit der Visitenkarte von Raphael gehe ich zufrieden ins Schlafzimmer, stelle sie wie eine Trophäe an die Nachttischlampe und schlafe bald ein.
Nach fast vier Stunden wache ich das erste Mal auf. So eine lange Zeit schlafe ich selten an einem Stück, ich freue mich darüber. Nachdem ich ein paar Zeilen gelesen habe, finde ich sofort wieder in den Schlaf zurück. Mir scheint es richtig gut zu gehen.
Meine Therapeutin ist unverkennbar skeptisch, als ich ihr von meinem göttlichen Erzengel Raphael vorschwärme. Ein Mann in den Fünfzigern, noch niemals verheiratet, das wirkt auch auf Valentina suspekt.
„Selina, es wäre besser für dich, erst einmal zu lernen, mit dir selbst liebevoll umzugehen. Statt dessen stürzt du wieder mit Haut und Haaren in eine Beziehung mit der Hoffnung, die fehlende Liebe von einem Mann zu erhalten.“
Ihre gutgemeinten Ermahnungen prallen jedoch an mir ab.
Freilich hat sie damit ins Schwarze getroffen. Leider ist es zu spät, ich habe Schmetterlinge im Bauch und mein Verstand läuft auf Sparflamme.
Klar, ich kann froh sein, dass ich die vielen Beziehungswiederherstellungsversuche (tolles Wort) mit Konrad offenbar abgeschlossen habe.
Bestimmt wäre jetzt eine gute Gelegenheit, mich selbst lieben zu lernen und unter Umständen auch meine Berufung zu finden. Statt fortwährend etwas zu suchen, was ich im Außen niemals finden kann, sollte ich die verkrusteten Gefühle der Vergangenheit bearbeiten und betrauern.
Weiß ich alles, theoretisch. Leben kann ich nicht danach. Ich habe schlichtweg Angst, den ganzen Seelenmüll aus der Kindheit zu beweinen. Nachher kann ich nicht mehr aufhören. Oder ich drehe durch und werde verrückt. Reicht es nicht, dass ich mich jahrelang zwangsläufig damit beschäftigte?
Die Geschichte meiner Vergangenheit ist mir lange bewusst, nur die schmerzhaften Gefühle dazu, die habe ich verdrängt, schlicht aus Angst. Wenn ich emotionslos in der Therapiestunde eine Begebenheit aus meiner Kindheit erzähle, merke ich an Valentina, dass mir die Gefühle dazu fehlen. Sie regt sich auf, ist wütend, geschockt, fassungslos und entsetzt. Manchmal flitzt sie aufgebracht von ihrem hellen Ledersessel zum Blumenfenster und wieder zurück, immer wieder.
Und ich sitze dann beharrlich blöd da und würde am liebsten flüchten, weil ich ihre Emotionen nicht ertragen kann.
Abgespaltene Gefühle sind wie ein unkontrollierbar brodelnder Vulkan, der mich unter der Asche restlos begräbt und mit seiner glutheißen Lava die dürftig verheilten Narben meiner Seele für immer und ewig zum Brennen bringt.
Es war harte Arbeit, einen Platz im
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