Die Lebenskünstlerin (German Edition)
Oberweite aufregend zur Geltung bringt, meinen Po gekonnt umschmeichelt und meine Taille sagenhaft schlank erscheinen lässt.
Der Tag kann nun kommen. Die Klamottenfrage ist geklärt.
Zärtlich führt mich Raphael durch den sonnigen Park. Ein laues Lüftchen lässt meine langen, lockigen Haare außerordentlich wirken und in dem sanften Sonnenlicht wie Gold erscheinen.
Ich genieße Raphaels bewundernde Blicke und seine wirklich einfallsreichen Komplimente.
Da ich unfassbar aufgeregt bin, erzähle ich munter drauflos. Raphael ist so süß und lacht an den richtigen Stellen, bewundert die Idee, Gedichte beim Brötchenverkaufen zu schreiben und möchte, dass ich ihm nächstes Mal welche mitbringe.
Ich bin glücklich, es gibt anscheinend ein nächstes Mal, er hat Interesse an dem, was ich tue. Ein Märchen erwacht zur Wirklichkeit. Ich stehe in Flammen.
Wir besuchen ein Openair-Konzert und finden es beide scheußlich. Lachend verschwinden wir Hand in Hand während der Pause und kehren beim Italiener gegenüber ein.
Dort halte ich mich bewusst zurück, möchte ihn von seinen Patienten erzählen lassen, frage nach seinem Alltag, seinem Leben.
Gewandt weicht er aus, verheiratet sei er nie gewesen.
Sofort meldet sich meine warnende innere Stimme: Wieso das? Er ist Mitte fünfzig und damit etliche Jahre älter als ich. Was mag er für eine Macke haben?
„Nein, bei meiner Mama lebe ich schon lange nicht mehr“, lacht er auf meine Frage hiernach.
Beim Thema ehemalige Beziehungen fängt er an herumzudrucksen. Tatsächlich verweigert er mir eine genaue Antwort. Mein Misstrauen ist hellwach. Doch ich will diesen herrlichen Traum weiterträumen, und so werfe ich schnell alle Bedenken zur Seite und genieße den restlichen Abend.
Immerhin interessiert sich Raphael auffallend für mein Leben und meine Gedanken, jedenfalls fragt er ständig nach und gibt liebenswürdige Kommentare dazu ab.
Sein Kuss ist zärtlich, sanft und warm und ausgesprochen erotisch - genauso, wie ich es mir erhofft habe. Damit verabschiedet er sich vor meiner Haustüre.
Ich weiß nicht, ob ich das jetzt gut oder schlecht finden soll. Gerne hätte ich ihm noch meine Wohnung gezeigt, die ich für alle Fälle zuvor aufgeräumt und geputzt habe.
Endlos liege ich in meinem Bett und kann nicht schlafen. Ganz klar, dieser Mann hat ein unausgesprochenes Geheimnis.
Je größer das Geheimnis, desto größer die Belastung, desto mehr kompensatorische Entlastungshandlungen. Davon abgesehen ist es von mir nicht gesund, auf so einen Geheimnisträger abzufahren, das weiß ich.
Als ehemalige Angehörige eines Alkoholikers bin ich sensibilisiert in Bezug auf Heimlichkeiten. Zudem weiß ich durch jahrelange Selbsthilfegruppenerfahrung, dass sich eine gesunde Beziehung nur entwickeln kann, wenn die Karten offen auf dem Tisch liegen.
Selten komme ich während der Arbeit zum Schreiben, da ich ständig abgelenkt bin. Fortdauernd sind meine Gedanken entweder bei Raphael und dem vermeintlichen Mysterium, das ihn umgibt.
Oder bei dem gestrigen Anruf meines Vaters, der knapp mitteilte, dass es meiner krebskranken Mutter bedenklich schlecht geht.
Reise ins finstere Mittelalter und ein schmucker Bergdoktor
Schweren Herzens beschließe ich, zu meinen Eltern zu fahren. Das ist natürlich ein Pflichtbesuch, den ich äußerst ungern mache. Wenn ich nur wüsste, was mich immer wieder dort hinzieht? Es ist eine lästige und anstrengende Reise ins finstere Mittelalter.
Ungewollt, ungeliebt und abgewiesen fühlte ich mich während meiner düsteren Kindheit. Dazu kommen noch einige unschöne Erinnerungen: Schläge, Missbrauch und Demütigungen.
Keine Ahnung, warum meine Eltern nach vielen Jahren Kontaktstille auf einmal nach mir rufen und erst recht keine Ahnung, warum ich diesem Ruf überhaupt folge.
Den ganzen Nachmittag sitze ich am Bett meiner Mutter. Sie ist aufgrund ihrer letzten Chemotherapie sehr geschwächt. Vollgepumpt mit Morphin wartet sie nun schon seit Wochen auf irgendwas. Vermutlich hofft sie auf Besserung oder gar Spontanheilung. Möglicherweise weiß sie auch, dass sie bald sterben wird. Ich weiß nicht, was in ihr vorgeht.
Sie ist kaum noch ansprechbar. Mein Vater geht mir aus dem Weg, außer einem flüchtigen Gruß beim Kommen und Gehen reden wir nichts miteinander.
Warum sitze ich hier? Warum lässt sie meinen Vater immer wieder nach mir rufen?
Ich spüre keine Trauer darüber, dass sie bald sterben wird. Allenfalls darüber, dass sie
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