Die Lebenskünstlerin (German Edition)
selbst bestimmen, ob diese alten Glaubenssätze heute noch für mich gültig sind. Das ist die Theorie. Klingt jedenfalls schön.
Ich wünsche, ich wäre wirklich erwachsen und könnte ein selbstbestimmtes Leben führen. Meine augenblickliche Situation spricht indessen dagegen.
Mitreißend geht es weiter im Text: Gedanken sind Kräfte. Jeder Gedanke ist Energie und manifestiert sich in irgendeiner Form im eigenen Leben.
Obgleich ich das alles schon des Öfteren hörte und las, so vermochte ich bisher fast nichts davon umzusetzen.
Sollte ich mich eingehender mit diesen Themen befassen? Jetzt habe ich immerhin genug Zeit hierfür.
Was bedeutet diese Weisheit im Alltag? Behandle ich mich selbst herabwürdigend, so wird diese Tatsache auch von Außen in irgendeiner Form Gestalt annehmen.
Die schreckliche Kritiksucht Konrads trifft auf meine Selbstkritik.
Im Umkehrschluss würde das ja bedeuten, dass Konrad keine Chance gehabt hätte, wäre ich liebevoller mit mir umgegangen.
Ob das damit gemeint ist?
Ich traue mir nicht zu, meine Talente zu leben, sie zu entwickeln. Dafür mache ich Jobs, die mich nicht fordern, sondern langweilen. Ich denke, mir steht keine Unterstützung vom Staat zu, weil ich mich schäme.
Meine Jobs werden schlecht oder überhaupt nicht bezahlt. Zudem habe ich ein unsagbares Talent, die Arbeitsstellen auszuwählen, welche sowieso dem Untergang geweiht sind.
Ich investiere immer da, wo es keinen Sinn macht. Egal, ob es um Beziehungen oder Arbeitsstellen geht.
Voller Motivation schreibe ich mit dickem schwarzen Edding auf einen Zettel:
Gedanken sind Energie. Ich entscheide mich für meine Gedanken selbst.
Ein frommer Wunsch.
Kaum habe ich den Zettel an die Innenseite meiner Schlafzimmertür gehängt, klingelt mein Telefon.
Wenige Minuten später befinde ich mich auf der Autobahn zu meinen Eltern. Mutter geht es angeblich schlechter. Da sie seit Wochen ohnehin im Koma liegt, frage ich mich, was daran noch schlechter werden kann?
Die Gemeindeschwester verabschiedet sich gerade von meinem Vater, als ich vor dem Haus parke.
Schwerfällig steige ich aus meinem Auto. Wie zäh fühlen sich meine Glieder an, so, als hätte ich eine beginnende Lähmung. Wahrscheinlich spürt jede Faser meines Körpers den inneren Widerwillen.
Die Schwester tätschelt Vaters Arm und winkt mir flüchtig zur Begrüßung zu. Darüber hinaus werde ich nicht beachtet. Die Beiden sind tief in ihrer anscheinend emotionalen Konversation versunken.
Blöde stehe ich daneben, warte, bis mein Erzeuger seine Wehklagen tränenreich beendet.
Trotz der jahrelangen schweren Krankheit meiner Mutter ist der große Garten um das Haus erstaunlich penibel gepflegt und mit bunten Plastikzwergen garniert. Zwanghaft betrachte ich die dämlichen Plastikklumpen. Ich habe grundsätzlich nichts gegen Zwerge, auch wenn ich mir diese angeblich listigen und schlauen Kerle aus der Unterwelt, ausgestattet mit übermenschlichen Kräften, niemals in den Garten stellen würde. Aber die hier hasse ich alle.
Der abscheuliche Jägerholzzaun ist frisch gestrichen und kein einziger Grashalm wächst zwischen den fünfzig mal fünfzig großen grauen Waschbetonplatten auf dem Weg zum Haus.
Ich hasse den Zaun, die Platten, alles. Es erdrückt mich. Ich will nicht hier sein.
Aber ich bin brav hergeeilt.
Eingeschüchtert starre ich die dunkle Holzdecke im Krankenzimmer an. Ich übernehme die Wache am Bett meiner Mutter, denn Vater möchte ein paar Besorgungen erledigen. Er scheint es eilig damit zu haben. Rasch verschwindet er aus der Haustüre, bekleidet mit einem neuen hellen Anzug und mit seinen Gedanken ganz woanders. Der eben noch leidende Mann an der Gartentür hat sich schlagartig einer Wandlung unterzogen.
Ständig hatte er Affären neben meiner Mutter. Sicherlich wartet jetzt auch irgendwo eine Frau auf ihn. Als Kind habe ich die endlosen Diskussionen darüber oft mitgekriegt.
Giftige Beschimpfungen und emotionale Erpressungen waren die direkten Nachwehen solcher Eskapaden. Das Endresultat war immer gleich: Mutter legte sich im abgedunkelten Wohnzimmer auf die Couch und litt stumm vor sich hin. Tage, Wochen, Monate. Zwischendrin verschwand sie regelmäßig für längere Zeit, angeblich wegen Gallensteine. Das Wort Psychiatrie durfte niemand aussprechen. Ein absolutes Tabuwort.
Niemand sprach oder spricht in dieser Familie ehrlich über die Vergangenheit. Im Nachhinein wurde sie verklärt dargestellt. Herrlich und wunderbar
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