Die Lebenskünstlerin (German Edition)
möchte ich mein ausstehendes Gehalt einfordern. Soll ich einen Anwalt konsultieren oder gar vor Gericht ziehen?
Soviel Kraft habe ich nicht übrig. Das geht alles für Liebeskummer und Sinnfindung drauf.
Die nächste Schicht wäre meine gewesen. Jetzt habe ich ja noch den Generalschlüssel des Einkaufscenters in meiner Tasche liegen. Vielleicht kann ich den irgendwie als Druckmittel einsetzen?
Akribisch genau liste ich per Excel meine noch ausstehenden Gehaltsforderungen auf und erbitte höflich um Ausgleich. Als Gegenleistung werde ich nach dem Überweisungseingang sofort den Generalschlüssel, sozusagen als Geisel, in der Hauptfiliale abgeben. Plumpe Anfängererpressung einer mittellosen Brötchenverkäuferin im Angesicht des befürchteten sozialen Abstieges.
Tatsächlich habe ich zwei Tage später das geforderte Geld auf dem Girokonto. Ich bin völlig überrascht. Natürlich übergebe ich sofort den Schlüssel.
Gelungene Erpressung. Geht doch.
Als ich die Stufen vor der Hauptfiliale runterhüpfe, treffe ich auf Irma, eine ehemalige Kollegin aus einer Filiale in Frankfurt, glaube ich. So genau weiß ich das nicht. Sie erkennt mich sofort und eilt auf mich zu.
Laut und aufgebracht erklärt sie mir, dass sie immer noch keinen Cent bekommen hat. Faselt etwas vom Insolvenzverwalter, Polizei einschalten oder so, keine Ahnung. Ihre Wangen glühen dunkelrot und ihre Haare sind schlecht gefärbt. So genau wie jetzt habe ich sie noch nie betrachtet. Richtig kleine Schweineaugen hat sie. Sogar ihre Hände, die sie wild um mich herum fuchtelt, um ihren Redefluss zu unterstreichen, sind rötlich. Unbemerkt vergleiche ich meine Hände. Gott sei Dank, nicht rötlich. Gar kein Vergleich.
Ich schweige geduldig und warte auf eine Redepause. Als Irma endlich mal Luft holt, wünsche ich hastig alles Gute und verschwinde. Das Thema ist für mich abgeschlossen.
Nun, jetzt habe ich ausgiebig Zeit, um meine Kinder zu besuchen und um endlich mal auszuschlafen. Außerdem melde ich mich bei meiner Therapeutin und erbitte psychologischen Beistand. Immerhin kommt zu dem einfachen Trennungsschmerz noch eine zweifache Arbeitslosigkeit.
Valentina ist erfreut, dass ich mich bei ihr melde, ich solle die Zeit nutzen und jetzt endlich die ausgefallenen Therapiestunden nachholen. Gleich morgen kann ich kommen, dann übermorgen, die ganze Woche - ich bremse ihre Euphorie und verabrede mich mit ihr in der Praxis.
Valentina wirkt beruhigend auf mich. Dass ich beide Arbeitsstellen verloren habe, findet sie offenbar nicht weiter schlimm. Es sei wichtiger, mich um mein Seelenheil zu kümmern, statt mich permanent ausnutzen zu lassen. Sie schimpft liebevoll mit mir, weil ich die Therapie in der letzten Zeit vernachlässigt habe.
Ich gelobe Besserung und fühle mich beinahe geborgen.
Irgendwann kommt das Gespräch auf Konrads Rosengabe. Sie freut sich, dass ich den Brief unbeantwortet dem Müllcontainer zuführte.
Lange reden wir über die Ängste bezüglich meiner wirtschaftlichen Situation. Valentina versteht absolut nicht, was mich daran hindert, ALG II zu beantragen. Unser Sozialstaat gewährleistet Menschen in meiner Situation wenigstens die Grundsicherung.
Sie erinnert mich inständig an meine ehemals guten Ansätze, die durch das aufreibende Chaos um Männer, Mutter und Jobs fast verschwunden sind.
Ich stimme ihr zu und gelobe abermals Besserung.
Als ich erwähne, dass ich mich wieder aus allen Internetforen gelöscht und sogar meine E-Mail-Adresse geändert habe, reagiert sie hocherfreut.
Aufgewühlt und durcheinander verlasse ich die Praxis. Wieso kann ich nicht mein Leben leben wie andere auch? Warum ist es bei mir fortlaufend kompliziert? Bei Valentina klingt alles immer so einfach, klar und einleuchtend. Ganz im Gegensatz zum realen Leben. Bin ich ein hoffnungsloser Fall?
Wohlig eingekuschelt nehme ich mir das Buch vor, welches Valentina mir beim Abschied ans Herz legte. Es geht um die eigene innere Stimme, genauer ausgedrückt, um die Art und Weise, wie man mit sich selbst spricht.
Bestürzt stelle ich fest, dass ich mich beinahe unaufhörlich selbst beschimpfe. Besonders in der letzten Zeit werfe ich mir meine Unfähigkeit und Lebensuntüchtigkeit vor. Ich bin eine Verliererin, nutzloser Sozialmüll, eine Belastung für die funktionierende Gesellschaft.
Tief in mir drin kreischt immer noch die Stimme meiner Mutter, die mich als dumm und dämlich beschimpft.
Klar, ich bin inzwischen erwachsen und kann
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