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Die Lebenskünstlerin (German Edition)

Die Lebenskünstlerin (German Edition)

Titel: Die Lebenskünstlerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ute R. Albrecht
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sei es gewesen. Sich dagegen aufzulehnen, bringt mächtigen Ärger.
    Alle paar Tage fahre ich nun zu meiner Herkunftsfamilie. Aus Tagen werden Wochen. Niemand fragt, ob ich Zeit habe, was ich mache, wie es mir geht. Mein Bruder Heiner lebt auch in diesem Haus. Er ist zwei Jahre älter als ich und hat ausgeprägte autistische Züge. So hat ihn jedenfalls meine Therapeutin mittels Ferndiagnose eingestuft. In dieser Familie ist nämlich niemand behindert oder gestört. Er ist halt so. Mit Heiner rede ich genauso wenig wie mit meinem Erzeuger.
     
    Da ich müde bin, hole ich mir aus der Küche einen Kaffee. Mein Vater faselt gerade mit meinem Bruder über Internetsex und geilen, gefesselten, nackten Mädchen, während meine Mutter ab und an röchelnd im Schlafzimmer stöhnt. Heiner scheint auf dieses Thema fixiert zu sein.
    Während seiner Kindheit war Heiner kaum zugänglich. Perverser Sex scheint ihn aber mittlerweile zu interessieren. Er ist aufmerksam. Sonst blockt er alles ab, vermag nichts wahrzunehmen in seiner verschlossenen Welt. Leider gehört er nicht zu den wenigen begabten Autisten über deren bemerkenswerten Fähigkeiten manchmal im Fernsehen berichtet wird. Die sogenannten Savants mit Inselbegabungen, die mitunter ganze Telefonbücher runterrattern oder ewig viele Stellen hinter dem Komma in Rechenaufgaben benennen können.
    Heiner ist anders. Er blendet alles aus, nimmt die Außenwelt kaum wahr. Sein Interesse an Wasserhähnen scheint vorbei zu sein. Er verdreht seine Finger und mir wird schlecht. Ich trage meinen Kaffee über den Flur in das Krankenzimmer.
    Mein Vorhandensein interessiert beide sowieso nicht und ich bin froh darüber. Wenn die Gemeindeschwester kommt, helfe ich ihr beim Austausch des Tropfes und beim Verbände wechseln. Schließlich habe ich meine Prüfung als Heilpraktikerin und ein Gespräch über Dosierung und Verabreichung der entsprechenden Arzneimittel bringt ein wenig Normalität und Abwechslung während der langen Stunden dort.
     
    Fast immer, wenn jemand da ist, kommt mein Vater ins Krankenzimmer. Der fängt dann sogleich an zu heulen, keine Rede mehr von gefesselten Mädchen, von Titten und Fotzen, die er alle vernaschen will. Nein, er steht da wie das personifizierte Leiden Christi, jammert der Gemeindeschwester, dem Hausarzt und den wenigen Besuchern sein Leid vor. Er kotzt mich an. Alles hier kotzt mich an.
    Er hätte doch schon seinen Sohn Aaron vor zwei Jahren an den Krebs verloren, jetzt noch seine geliebte Frau. Das Schicksal sei so hart und ungerecht zu ihm. Dann wird ihm allseits gut zugesprochen - bis sein Heulen in unkontrolliertes Schluchzen übergeht. Arm und Rücken werden beruhigend getätschelt, grenzenloses Mitleid ist ihm gewiss.
    Kaum ist die Haustüre geschlossen, sind die Tränen versiegt und der perverse Vortrag in der Küche mit meinem Bruder geht unüberhörbar weiter. Dieser reiht irgendwelche Brotkrumen auf dem Muster der Tischdecke aneinander und wippt dazu stereotyp mit seinem Oberkörper. Zwischendrin frisst er Hautfetzen von seinen Fingern. Das ist ekelhaft.
    Ich bin bemüht, alles um mich herum auszublenden. Da mich ohnehin kaum jemand wahrnimmt, gelingt das üblicherweise.
     
    Berichte ich in der Therapiestunde bewusst knapp von meinen anstrengenden Höllentrips, dreht Valentina regelrecht durch. Sie versteht nicht, warum ich dort hinfahre. Zumal ich meine Mutter nicht liebe. Weshalb ich mich in so eine Situation begebe, wo ich permanent an meine Kindheit mit Missbrauch und Demütigungen erinnert werde. Das sei absurd und selbstzerstörerisch.
    Ich kann es ihr leider nicht erklären. Wie sollte ich das jemandem begreiflich machen? Ich verstehe mich ja selbst nicht. Mein Denken stimmt mal wieder nicht mit meinem Verhalten überein. Ich weiß es, ich spüre es und kann es trotzdem nicht ändern.
    „Ich möchte nicht weiter über dieses Thema kommunizieren“, verkünde ich zwar gewählt, aber recht kleinlaut.
    Valentina akzeptiert. Sie ist auf meiner Seite. Mir ist das Thema peinlich. Ich will sie nicht mit dieser unsinnigen Angelegenheit langweilen oder anstrengen. Also schniefe ich mal kurz und bemühe mich um ein Grinsen. Mit einem recht verkrampften Späßchen wechsle ich den Themenstoff und rette mich damit vorerst aus der unbequemen Situation.
    Valentina lässt mich gewähren, obwohl sie mich offensichtlich durchschaut.
     
    Die Hardcore-Esoteriker gehen davon aus, dass die Seele Erfahrungen sammeln will und sich bewusst eine passende

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