Die Lebenskünstlerin (German Edition)
darüber regelrecht weg. Allerdings hat dies nicht funktioniert.
Das war auch der Auslöser, warum ich einst die Selbsthilfegruppen aufsuchte. Sie erzählten mir dort, ich hätte eine Krankheit auf allen Ebenen und ich sei machtlos demgegenüber.
Nach meinem ersten Meeting bin ich nach Hause gefahren, habe alles aufgefressen, was ich finden konnte. Danach alles wieder gekotzt in dem Bewusstsein, ich bin nicht die Einzige, die diese Krankheit hat und ich brauche mich dafür nicht zu schämen, weil ich machtlos bin.
Das war das letzte Mal, dass ich bulimisch reagieren musste. Zwar war ich in meinen Gedanken noch sehr lange nass, aber brauchte niemals mehr diese Sucht auszuleben.
Meine Definition für Abstinenz ist schuldfreies Essen.
Abstinenz ist eine Entscheidung.
Emotionen verlieren ihre zerstörerische Macht, wenn man ihnen gestattet, an die Oberfläche zu kommen. Nur Verdrängtes beherrscht und bestimmt das Leben, quält und ruiniert einen wie ungezogene Bestien.
Elena und Carmen sind Überesser und in ihrer Gruppe hat niemand Bulimie oder Magersucht. Die grundlegende Problematik mag die gleiche sein. Die Art, wie der einzelne dies auslebt, ist eben differenziert.
Fett benebelt das Denken. Fett, das zwischen dem Menschen und der Wirklichkeit geraten ist, so dass sie nie die Dinge sehen, wie sie wirklich sind. Dicke sehen alles, wie sie hoffen, dass es wäre oder bald sein wird.
Da liegt für mich der gravierende Unterschied zur Bulimie.
Der Bulimiker will seinem hohen Ideal mit seiner Kontrolle gerecht werden und tut alles hierfür.
Der Fressi belügt sich selbst und hat gar kein Ideal, es ist im fettigen Nebel voller Angst und Begrenzungen stecken geblieben.
Das Treffen beginnt mit Verspätung.
Elena, die heute die Leitung übernehmen wollte, ist nicht zu erreichen. Das ist nicht ganz so ungewöhnlich, weil sie zu den Menschen gehört, die zwar ein Handy besitzen, aber noch lange nicht permanent erreichbar sind.
Trotzdem mache ich mir sorgenvolle Gedanken, während die anderen Gruppenmitglieder die Organisation bis auf Weiteres umstrukturieren. Mir fallen die düsteren Prognosen der Wahrsagerin ein. Dennoch versuche ich, mich auf das Meeting zu konzentrieren. Schließlich geht es um spirituelles Wachstum.
Mario, heute der einzige Mann in dieser Gruppe, liest die Präambel. Darin wird wieder an den Sinn der Gemeinschaft erinnert, nämlich Erfahrung, Kraft und Hoffnung miteinander zu teilen.
Danach wird die Anonymität betont und die Unabhängigkeit der Selbsthilfegruppen in jeglicher Beziehung.
Nachdem er sich mühsam durch die Präambel gequält hat - lesen scheint nicht seine besondere Begabung zu sein - reicht er die Unterlagen weiter.
Die hellblauen Augen in Marios schwammig rundem Babygesicht sehen erleichtert aus. Während er mit beiden Händen über die Glatze fährt, lehnt er sich stöhnend zurück. Kaum zu glauben, dass dieser tollpatschige Brocken mehrere Kleidungsgeschäfte besitzt.
Während Franziska ihre Lesebrille zurecht rückt, blicke ich aus dem Fenster, um eventuell Elenas Auto zu entdecken. Tatsächlich, das kleine rote Auto hält gerade an der gegenüberliegenden Straßenseite.
Erleichtert und beruhigt lese ich nun einen der zwölf Schritte, die von Machtlosigkeit der Sucht gegenüber sprechen, von dem Glauben, wieder genesen zu können, dem Entschluss etwas ändern zu wollen. Der Vierte Schritt, den wir heute gemeinsam angehen möchten, empfiehlt eine furchtlose Inventur, die auch bitter nötig ist, um dauerhaft genesen zu können. Darin geht es um Ehrlichkeit, nicht um sinnlose Schuldzuweisungen.
Anne und Carmen lesen die weiteren Schritte laut vor. Sie handeln davon, dass wir akzeptieren müssen, dass wir Fehler haben, um mit ihnen leben zu können. Und dass wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und versuchen sollen, diese in Zukunft nicht zu wiederholen. Die letzten Abschnitte handeln von Wiedergutmachung und davon, die Botschaft weiterzugeben.
Die Eingangstür des alten Gemäuers fällt mit einem heftigen Schlag ins Schloss. Dann folgt das Knarren der alten Dielen, das Hallen von Schritten auf der hölzernen Treppe. Die Tür geht auf und Elena steht im Raum.
Sie sieht aus, als ob sie gleich zusammenbrechen würde. Fassungslosigkeit starrt uns aus den rotgeweinten Augen an. Sofort springe ich auf und nehme sie in die Arme, dann beginnt sie auch schon hemmungslos zu weinen.
Nach ausgiebigem Schluchzen erfahren wir den Grund für ihren
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