Die Lebenskünstlerin (German Edition)
wir.
Draußen kaufen wir uns bei den illegalen Billighändlern T-Shirts und Poster, drinnen im Eingangsbereich bieten sie Originale an, doch billiger ist uns lieber.
Wir sitzen am späten Abend glücklich in der S-Bahn, lachen, weil wir nur noch krächzen können, es ist großartig. Mir fällt auf, dass ich noch nicht mal nach Konrad unter den Besuchern Ausschau gehalten habe. Den Jammerlappen habe ich doch glatt vergessen, endlich.
Ein guter Tag. Ein wirklich guter Tag.
Mit einer liebevollen Umarmung verabschiedet sich meine Therapeutin. Sie fährt drei Wochen nach Südtirol und gleich danach werde ich in die Freizeit fahren. Ach, wenn sie nicht meine Therapeutin wäre, würde ich mich um eine Freundschaft bemühen.
Ich mag Valentina, weil sie so herzlich, frisch und fröhlich und vor allen Dingen so angenehm normal ist. Sie zeigt mit ihrer Art, dass Adrenalin-Junkies nicht gesund leben und dass es sich lohnt, ein intaktes stabiles Leben zu führen.
Zuhause liegt vor meiner Wohnungstür ein kleines braunes Päckchen. Mir ist sofort klar, von wem dies ist. Keine Frankierung, also muss er sich wieder ins Haus gemogelt haben, um dies hier abzustellen.
Konrad. Wann verschwindet dieser elende alte Sack aus meinem Leben?
Sauer kicke ich das braune zugeklebte Päckchen in die Wohnung, da meine Arme mit Einkaufstüten vollbepackt sind.
Mit einem scharfen Messer öffne ich später unsanft die Klebestreifen, egal ob der Inhalt darunter leidet oder nicht.
Da liegt ein Westernhagen-Ticket, eindeutig als ein Original zu erkennen anhand der silbern schimmernden Einprägung.
Schön, hat er es doch noch rechtzeitig gemerkt und sich selbst ein Ticket besorgt.
Und was soll ich jetzt damit anfangen?
Ich quäle mich durch die ersten Zeilen seiner übersteilen harten Schrift. Ein Graphologe hätte mir bestimmt von ihm abgeraten. Als ich von irgendwelchen Beteuerungen und notwendigen Dramen lese, zerreise ich den ganzen Unsinn.
In der Kiste ist sonst absolut nichts, außer Füllmaterial. Der hat mir in der Tat seine abgerissene Konzertkarte mit einem hirnverbrannten Brief vorbeigebracht. Völlig durchgedreht, der in meiner Visualisierung filetierte Geisteskranke.
Ruhig sammle ich die herausgefallenen Schnipsel auf, stopfe sie in das braune, umständlich zugeklebte Päckchen und bringe das lästige Präsent mit dem restlichen Hausmüll runter zum Container.
Kann sein, dass der Wahnsinnige wieder irgendwo in der Hecke sitzt und spannt, auch egal. Mir wäre es zum Spannen viel zu kalt und langweilig muss das zudem doch auch sein. So was kann ich nicht nachvollziehen.
Zwar bin ich müde aufgrund der anstrengenden Therapie, doch wegen der Angelegenheit mit dem Päckchen möchte ich nicht alleine zu Hause bleiben. Da ich von Maximilian weiß, dass die Anonymen Alkoholiker eine Weihnachtsfeier ausrichten, fahre ich zu ihnen. Denn heute werden auch die Angehörigen willkommen geheißen.
Bestimmt dreißig Leute sind offenbar gut gelaunt versammelt, als ich ankomme.
Mich beeindruckt die Klarheit der Exsäufer, so gänzlich ohne Schnörkel. Mit ihrer individuellen Sicht auf ihre Krankheit, den Alkoholismus, wirken einige von ihnen verdammt nah am Kern des Lebens.
Wobei die Angehörigen der Alkoholiker unter einem diffusen, komplizierten, recht schwer definierbarem Helfersyndrom leiden. Der Alkoholiker ist sozusagen ihre Flasche, die sie ihrerseits stehen lassen müssen, um zu genesen.
Vor dem Meeting geht es richtig turbulent zu, ich bin mitten drin und fühle mich unsagbar wohl. Wir schwatzen alle durcheinander, es wird umarmt und Kaffee gekocht, Stühle und Tische passend angeordnet. Dann kehrt schlagartig Ordnung ein. Maxi eröffnet das Meeting, während wir alle still auf unseren Stühlen sitzen und uns auf das Folgende besinnen.
Da heute viele Angehörige zugegen sind, fühlen sich die ehemaligen Säufer dazu berufen, jetzt und hier ihre ganze Lebens- und Leidensgeschichte detailliert und gepfeffert zum Besten zu geben. Es wird auf den Tisch gehauen, um den eigenen Standpunkt und die gewonnenen Erkenntnisse zu bekräftigen. Laut und voll glühender Emotionen werden die früheren Trinkerkarrieren dargelegt. Dagegen wirkt ein dramatisches Theaterstück läppisch.
Anfangs hat mich das ganze Procedere ziemlich erschreckt. Ich bin doch eher die leisen, wehleidigen und depressiven Töne aus den Emotional-Gestörten-Gruppen gewöhnt, wo die eigentliche Lebensproblematik mitunter in einer dunklen Grauzone
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