Die Lebenskünstlerin (German Edition)
Dame auch nicht mehr nehmen.
Draußen habe ich lange genug Zeit gehabt, mir eindeutige Fragen zu überlegen. Je klarer die Frage, desto klarer die Antwort.
Die Wahrsagerin ist in mehreren dunkelgrünen und schwarzen Stoffbahnen gehüllt. Lockig und leicht ungepflegt fallen ihre langen schwarzen Haare auf den seidig glänzenden Samt herab. Das verleiht ihr ein überaus wirkungsvolles hexenhaftes Auftreten.
Mit einer ausdrucksvollen Geste bietet sie mir Platz auf ihrer kleinen Bank an.
Beim Hinsetzen kann ich ihr Gesicht noch näher begutachten: Schmal, kantig und richtig schöne Falten. Nein wirklich, die passen zu ihr, sie wirkt unnahbar, aber auf eine besondere Weise auch schön. Erhaben.
Zwischen uns steht ein eckiger Tisch mit dunkelroter Decke, eine einfache Glaskugel am Rande. So eine habe ich in meiner mystischen Kiste im Keller deponiert. Hat mal fünfzehn Euro gekostet, in irgendeinem Möbelmarkt.
Der ganze Waggon der Wahrsagerin ist vollgestellt. Mit Vorhängen ist der kleine Sitzplatz vom restlichen Inventar abgetrennt.
Ich stelle meine Frage und reiche ihr meine Hand, nachdem sie mich dazu mit strengem Blick aufgefordert hat.
Sie stöhnt ein wenig, ich weiß, dass meine Handlinien kein kraftvolles Leben versprechen, aber grundsätzlich ist das zu entwickelnde Potential viel wichtiger.
Gewissenhaft prüft sie den Verlauf der vielen Linien in meinen Händen, vergleicht, überlegt und brummelt Unverständliches vor sich hin. Das gehört schließlich zum Geschäft. Das weiß ich auch. Und so warte ich geduldig, bis sie ihr Urteil vorsichtig abgibt.
Sie beantwortet meine Frage.
„Ja, du wirst einen netten Mann näher kennen lernen. Noch in diesem Jahr.“ Juhu, geht doch.
„Der ist es aber nicht.“ Oh.
„Ich sehe eine große Sympathie, nichts weiter.“
Schade.
Ganz ruhig bleibe ich sitzen. Offensichtlich ist ihr Gedankenfluss längst noch nicht zu Ende.
Sie räuspert sich und redet weiter: „Durch diesen Herrn, der dir bald ein guter Freund sein wird, begegnest du einem liebenswerten Mann, der es wert ist. Der zu dir gehören wird. Im folgenden Jahr wirst du mit ihm zusammen kommen. Bald darauf werdet ihr heiraten. Ihr seid eindeutig füreinander bestimmt.“
Juhuuuuuu.
Warnend sieht sie mich an: „Es wird am Anfang nicht immer danach aussehen. Da gibt es noch ein paar Schwierigkeiten zu überwinden.“
Schwierigkeiten überwinden? Ach, nichts leichter als das. Darin habe ich doch inzwischen ausreichend Übung. Näheres will ich davon nicht hören. „Woran werde ich ihn erkennen?“ hake ich nach.
„Daran, dass er dich schätzt und achtet. Was ja wohl in der letzten Zeit mit den Männern nicht immer der Fall gewesen ist“, grinst sie mich wissend an.
Ich bedanke mich und habe alles erfahren, was ich hören wollte. Draußen mache ich mir schnell Notizen, damit ich im Nachhinein nichts verdrehe.
Voller Euphorie berichte ich Elena davon. Die bietet mir gebrannte Mandeln an und erzählt von ihrer Sitzung bei der Wahrsagerin.
Ein heftiger Schicksalsschlag in ihrer Familie stünde unmittelbar bevor. Um ihren Sohn oder um sie geht es dabei glücklicherweise nicht. Dieses Ereignis würde sich zweimal wiederholen. Abschied und Trauer bestimmen die nahe Zukunft.
Elena lenkt sofort das Gespräch auf andere Themen, so arg hat die Zukunftsprognose sie durcheinander gebracht. Beunruhigt lasse ich den Themenwechsel zu.
Vorhin erlebte ich sie noch aufgeräumt und fröhlich, jetzt spricht sie knapp und beiläufig so ernste Worte. Ich bin hier wohl nicht die Einzige, die nach Außen vorgibt, stark und unangreifbar zu sein, obwohl im tiefsten Inneren der Schmerz bohrt und die Angst sitzt.
Trotz der düsteren Prognose durch die Wahrsagerin für meine Freundin endet unser Tag gemütlich in einem Bistro bei Kerzenschein. Wir stellen alberne Mutmaßungen über die bevorstehende Freizeit auf. Planen die baldige Fahrt nach Frankfurt wegen eines Konzertbesuches von Marius Müller-Westernhagen und freuen uns über diese herannahenden Termine, die ein wenig Licht ins sonst so düstere Leben zaubern.
Elena ist von Westernhagen nicht so ganz begeistert, mag aber durchaus einige Songs von ihm.
Vor fast genau einem Jahr besorgte ich zwei Karten. Eine für mich, eine für Konrad, meinem Ex, den ich kürzlich in Gedanken mit der Kettensäge filetiert habe.
Allerdings behielt ich besagte Eintrittskarte und fertigte mit dem Scanner eine täuschend echte Kopie an. Sicher ist sicher. Die
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