Die Lebenskünstlerin (German Edition)
Gefühlsausbruch. Ihr heißgeliebter Bruder Gregor erlitt gestern Abend einen Schlaganfall. Mit noch nicht mal vierzig Jahren. Seitdem liegt er auf der Intensivstation im künstlichen Koma. Nach ihren Schilderungen erscheint es mir schier unmöglich, dass er noch mal mit einem blauen Auge davon kommen könnte.
Die Blutungen seien ziemlich massiv. Elena ist aufgelöst und fängt während des Meetings immer mal wieder zu weinen an. Tröstende Hände erreichen sie von allen Seiten.
Eine düstere Stimmung hat von uns Besitz ergriffen. Es ist heute schier unmöglich, das Thema Inventur zu behandeln.
Die Gewissheit unserer eigenen Vergänglichkeit, die Endlichkeit des Lebens, hat den Raum betreten. Das Thema Sterben und Tod ist übermächtig und lässt alles andere neben sich verblassen.
In solchen Situationen wird das eigene Leben deutlich bewusst und vielleicht sogar hinterfragt. Was habe ich bisher aus meinem Leben gemacht? Ich sicherlich noch lange nicht genug.
Es muss toll sein, eines Tages, vielleicht im hohen Alter, zufrieden zurückzublicken. Möglichst mit der Gewissheit, alles ausprobiert zu haben, was man wollte. Tragisch wäre, am letzten Lebenszipfel zu klammern mit einem verzweifelten Hätte-ich-nur auf den Lippen.
Dann kommt, was kommen muss: Elena wird von der Klinik aus angerufen, dort mussten sie Gregors lebenserhaltene Geräte abstellen, da sämtliche Hirnfunktionen erloschen sind.
Nun ist unser Bezirkstreffen offensichtlich gelaufen. Ich begleite meine Freundin nach Hause und höre mir ihre erinnerungsträchtigen Erzählungen an, die unweigerlich kommen, wenn einer für immer geht.
Verklärt schwärmt sie von ihrer Kindheit, ihrem Bruder, das wunderbare Elternhaus. Ich lasse dies so stehen, denn ich kenne auch die weniger verklärte Seite, doch heute erhält sie Schonfrist, sie ist meine Freundin und so schweige ich.
Dadurch, dass ich vor gut einem Jahr meinen eigenen Bruder Aaron durch eine Krebserkrankung verloren habe und kürzlich meine Mutter, kann ich dieses Gefühl von Machtlosigkeit dem Tod gegenüber verstehen.
Erinnerungen an meinen Bruder kommen auf, längst vergessene Dinge. Uns verband nie ein wirklich gutes Verhältnis, trotzdem oder vielleicht gerade deswegen ist die Trauer nicht geringer. Es werden verlorene Chancen und Möglichkeiten betrauert, das ist nicht minder schmerzhaft.
Seit seinem Tod habe ich keinen Kontakt mehr zu meinen fünf Nichten und Neffen, da seine Frau sich mir gegenüber völlig zurückgezogen hat. Aber damit kann ich leben.
Meine Mutter war stolz auf ihren ältesten Sohn. Er sollte es zu etwas bringen, dafür trieb sie ihn mit überzogenem Ehrgeiz an. Mit emotionalen Erpressungen, mit ihren Depressionen hatte sie ihn voll im Griff. Stammhalter sollte er bringen, die ihren Namen tragen.
Wie im Mittelalter, Mädchen kosten Geld und zählen nicht.
Er folgte ihr bis zu seinem Tod. Wahrscheinlich hat er keinen anderen Ausweg gefunden. Alles hat er getan, um geliebt zu werden. Studiert, Auszeichnungen gesammelt, Lehrer, Rektor, ist in die Politik, hat sich dort mühsam profiliert.
Nie ist es genug gewesen. Mit ihrem dämonischen Eifer trieb sie ihn an und er gehorchte. Bis zum letzten Atemzug.
An Ehrgeiz werde ich nun höchstwahrscheinlich nicht sterben, meldet sich mein schwarzer Humor, während ich die düsteren Erinnerungen an die Vergangenheit wieder abschütteln will.
Das bevorstehende Konzert bringt mich auf andere Gedanken. Damit ich dort kräftig mitsingen kann, hole ich alle meine alten CDs von Westernhagen hervor und kopiere sie auf meinen MP3-Player. Manche Texte sind wirklich bescheuert, stelle ich fest. Doch einige gefallen mir überaus gut.
„Solange wir noch leben, solange macht es einen Sinn“ grölen Elena und ich Arm in Arm in der großen Konzerthalle.
Der dünne, kleine Westernhagen flitzt gepflegt mit toupierten Haaren über die Bühne. Wir stehen soweit vorne, so dass wir deutlich seine Gesichtszüge erkennen können. Hübsch ist er ja gerade nicht, aber er röhrt wie ein wilder Hirsch und wir kreischen mit der Menge, lassen alle Töne raus, die in uns sind, egal, ob es nun gerade passt oder nicht.
Bei Mit dem Rücken zur Wand fängt Elena an zu weinen, ihr Bruder ist mit einem Mal präsent, wir drücken uns ganz lange und ganz fest. Bald darauf singen wir befreit und unsagbar laut bei dem nächsten Lied mit, die Umstehenden sehen uns erstaunt an, wahrscheinlich haben die nicht so viele aufgestaute Emotionen wie
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